Die Welt ist nicht genug

Die Antiglobalisierungsbewegung hat schon jetzt mehr erreicht, als sie selbst glaubt, aber auch mehr, als ihre Gegner meinen. Eine Apologie in vier Schritten

von ULRIKE WINKELMANN

Bilder: Die Kritik an den Globalisierungsgegnern, die korrekter als Globalisierungsskeptiker zu bezeichnen wären, fängt immer mit einer Kritik ihrer Erscheinungsform an. Zuletzt in New York beim Weltwirtschaftsforum, demnächst beim Weltwirtschaftsgipfel in den Rocky Mountains: Da laufen sie wieder, junge Leute aus aller Welt, und skandieren schlichte Parolen. Das Maß der medialen, also unserer Aufmerksamkeit richtet sich nach der Zahl der kaputten Fensterscheiben, der Festgenommenen und Verletzten. Ein berechnetes, ein bekanntes Spiel.

Es ist billig, sich über Latschdemos mit Gewalteinlage lustig zu machen. Die einzige Alternative zum Stumm-auf-dem-Sofa-Hocken und Nachrichtengucken ist nun einmal, lärmend auf die Straße zu gehen und Nachrichten zu machen. Schöner ist natürlich die so genannte fantasievolle Aktion (beliebt sind neuerdings Kostümdemos), und wichtig ist auch, dass die Extremsportler von Greenpeace sich ab und zu an Schornsteine hängen. Aber für alle protestwilligen Globalisierungsskeptiker gibt es schon lange nicht mehr genug Schornsteine, und fantasievolle Aktionen funktionieren nur in Schulklassengröße.

Ob es Sinn macht, durch Manhattan oder Brüssel zu laufen, nur weil ein paar Wirtschaftsbosse oder EU-Regierer dort in einem Hochhaus oder einem Schloss sitzen? Du liebe Güte, natürlich hat die körperliche Anwesenheit von Protestierern die Entscheidungsträger hinter ihren Mauern noch nie besonders beeindruckt. Auch The Battle of Seattle Ende 1999, der erste Paukenschlag der Bewegung, die erst seither als solche gilt, ist kein Gegenbeweis. Denn das Scheitern der Tagung der Welthandelsorganisation galt als programmiert.

Angesichts immer schnellerer und besserer Übertragung von Bildern und Informationen auf allen Kanälen – den medialen Möglichkeiten, die auch den Erfolg der Antiglobalisierungsbewegung ausmachen – ließe sich also überlegen, ob man die Demonstrationen nicht regelmäßig am selben Ort abhält. Sagen wir, im Bonner Hofgarten, da ist es schön. Dann könnte man seine Demobrötchen beim immer selben Kiosk kaufen und darauf vertrauen, dass man gefilmt wird, egal ob die G-8-Vertreter der mächtigsten Staaten nun gerade in Qatar oder in Garmisch-Partenkirchen sitzen. Das würde einer Menge Leute eine Menge Reisekosten ersparen.

Dann aber entfiele der Aufregungsfaktor, der von den Aufrüstungsbemühungen der verängstigten Gemeinde erzeugt wird, deren Hotellerie und Polizeibehörden sich auf die bewegten Tage vorbereiten. Außerdem lebt die Erzählung von Macht und Protest von dem gefühlten Kontrast: „Während innerhalb des hoch gesicherten Gebäudes die Staats- und Regierungschefs der acht führenden Industrienationen blablablubb, spielen sich draußen auf der Straße folgende Szenen ab …“ Kurzum: Wer kritisieren will, was die politischen Führungen der mächtigsten Staaten tun oder lassen, um die Weltwirtschaft zu beeinflussen, kommt nicht darum herum, sich vor ihrem Veranstaltungsort auf die Straße zu stellen. Alles andere ist Theorie.

Bildung: Theorie ist wichtig. Ein gewisser Mangel an Theorie lässt sich den Demonstrationsparolen entnehmen. The world is not for sale ist da noch eine der besseren, weil sie so hübsch an The world is not enough anklingt. Resistance international – Gegen Krieg und Kapital“, da seufzt auch das wohlmeinende Publikum. Nur: Die Intelligenz einer Bewegung lässt sich nicht an ihren Slogans messen. Auf allen Demonstrationen der vergangenen Jahrzehnte wurde der Unsinn, bei dem sich „international“ immer auf „Kapital“ reimt, von denselben Leuten skandiert, die im Anschluss nach Hause gingen, um dort weiter an ihren Magister- und Doktorarbeiten über die letzten Ziselierungen von Postmoderne und Dekonstruktion zu schreiben. Sie wissen, wie brüchig Identität ist, die sich an so banalen Knittelversen bildet. Aber was, bitte, reimt sich schon auf Devisengeschäft und Tobinsteuer?

Der Wille zur Pointierung, der auch immer der Wille zur Verflachung ist, gehört zu jeder politischen Bewegung. Es geht dabei nicht nur um die Verfütterung mediengerechter Informationshäppchen, sondern auch um die Wiedererkennbarkeit für solche, die sich noch überlegen, ob sie mitmachen wollen. Aus diesem Grunde wäre es allerdings ratsam, die überholte antikapitalistische Rhetorik endlich zu ersetzen. Andererseits weiß das Publikum, dass die Globalisierungsskeptiker etwas anderes wollen als, zum Beispiel, die Betonfraktion der Hamburger PDS.

Es wäre nicht fair, als Hauptziel der Bewegung die Tobinsteuer zu benennen und dann zu erläutern, warum eine solche Devisenhandelssteuer keine Chance hat, nicht funktionieren würde und das ganze Netzwerk Attac deshalb duschen gehen soll. Denn die als „Fragmentation“ und „Gesichtslosigkeit“ gegeißelte Vielstimmigkeit der Bewegung kennt mehr als nur das Ziel Tobin Tax. Sie versucht, die Facetten der wirtschaftlichen Globalisierung zu erkennen und zu benennen: Sklavenhaltung und -handel, Zerstörung ganzer Volkswirtschaften durch Börsenspekulation, Umweltkatastrophen durch Ressourcenausbeutung, all das. Das Themenspektrum der neuen Bewegung vermischt sich dabei mit dem der alten Neuen Linken. Antirassismus, Antinationalismus, Antisexismus und die anderen Antis geraten in einen Topf mit den Debatten der Nichtregierungsorganisationen: Überschuldung der Dritte-Welt-Länder, Hermesbürgschaften für Staudämme, Turnschuhproduktion in Südostasien. Dabei kommt keine schlüssige, kohärente Theorie heraus – aber die Einsicht, dass die Globalisierung im Kommunistischen Manifest schon sehr gut beschrieben wird.

Was dabei herauskommt, ist Bildung. Keiner kann das Rad neu erfinden. Aber Tausende von Menschen lernen die Geschichte der politischen Bewegungen und die ihrer Theorien kennen, befassen sich mit Ökonomien von Dritte-Welt-Ländern und schrauben sich in die Kompetenzzuteilung der EU-Gremien.

Globalisierungspolitik ist Bildungsarbeit. Und sie wird zum Beispiel in Deutschland weder von den Schulen noch von den Medien übernommen. Kein Attac-Kongress wird uns der Tobinsteuer näher bringen, aber jeder ist ein gut besuchter Crashkurs in Geschichte, Politik und Medienwissenschaften. Und vor allem in Wirtschaft.

Wirtschaft: Dass man auf der Schule wenig von dem lernt, was man für eine einfache Zeitungslektüre braucht, wissen wir nicht erst seit der Pisa-Studie. Aber die alte Neue Linke hat darüber hinaus vor allem ein Problem: Man hat keine Ahnung von Ökonomie, denn man hat zumeist Geistes- und Sozialwissenschaften studiert. Man fühlt sich mehr in der Genderdebatte der Germanistik zu Hause als an der Börse. Oder kann hier jemand freihändig erklären, wie Aktienkurse und Leitzinsen zusammenhängen? Die Attac-Sprecher können das. Die neue Bewegung ist sich bewusst, dass Volkswirtschaftslehre zählt.

Die globalisierungsskeptische Bewegung stößt genau in die Bildungslücke der postmarxistischen Linken. Die Zusammenhänge von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen, das Maß an Mensch im anonymen ökonomischen Apparat aufzudecken, hat sie zum Inhalt. Die Gewerkschaften müssten ihrem Gott danken für Attac und die anderen Bündnisse, die mit neuen Methoden und der einen oder anderen neuen Vorstellung über solche alten Dinge wie Steuerflucht und Mindestlohn reden wollen. Naomi Klein hat mit ihrem Bestseller „No Logo“ gezeigt, wie Popkultur und Arbeitsbedingungen zusammen buchstabiert werden. Auf die Idee wäre der Jugendbeauftragte im Vorstand des DGB bestimmt nicht gekommen.

Der enorme Erfolg eines Buches wie „No Logo“, hierzulande begleitet von dem des „Schwarzbuchs der Markenfirmen“ von Klaus Werner und Hans Weiss, beweist, dass Konsum und Arbeit Themen sind, Themen bleiben, dass die globalisierungsskeptische Bewegung weiß, dass sie Teil des Systems ist, dessen Veränderung sie verlangt: kein Demonstrant, der nie einen Markenturnschuh getragen hätte. Darum ist es auch müßig, der Bewegung vorzuwerfen, sie habe keine Alternative zum alles vereinnahmenden Kapitalismus. Das braucht sie nicht, sie würde sich sonst in eine Zeitschleife begeben und ungefähr bei 1848 wieder herauskommen.

Allerdings zeigt Naomi Kleins Erfolg auch dies: Die deutsche Bewegung hinkt der US-amerikanischen meilenweit hinterher. Die fortgeschrittenere Konsumentengesellschaft in den USA hat auch eine professionellere Kritik daran hervorgebracht. Die US-amerikanischen Protestgruppen wissen, dass sie mit politischer Ökonomie nach Marx nicht erfassen, was Reiz und Tücke von Konsum und Kapital ausmachen. Sie schlagen nach im Handbuch „Medienstrategien für politische Bewegungen“ und treten erfolgreiche Boykottaktionen los.

Gleichwohl ist es nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA schwierig, einen Erfolg der Globalisierungsskeptiker zu benennen, der sich an ihrem eigenen Maßstab messen ließe: Den Neoliberalismus in seinem Lauf halten die summit hopper, die Gipfelreisenden, die von einer Demo zur nächsten fliegen, auch nicht auf. Von „kleinen Siegen“ hat Naomi Klein in diesem Zusammenhang neulich gesprochen: bessere Arbeitsbedingungen in manchen Turnschuhfabriken Südostasiens, billigerer Strom in Südafrika, weniger Abschiebung von Asylsuchenden aus Kanada.

Vor allem aber ist die globalisierungsskeptische Bewegung eine internationale Volkshochschule mit Wirtschaftsschwerpunkt, eine Bildungsbewegung ohne ein Zentralkomitee, ohne Topideologisierer. Natürlich suchen hier auch all die Psychotiker der alten Neuen Linken wieder ein Forum, die ihren eigenen Prinzipienkrampf schon immer mit Politik verwechselt haben. Aber es sieht bislang nicht so aus, als gewännen sie die Oberhand – dazu gibt es zu viele Neuigkeiten, zu viele neue Leute, die erst einmal den Stoff bewältigen, die das Abkürzungsvokabular der Weltwirtschaftsherrschaft lernen wollen: WTO, IMF, Gatt, Trips.

Neben den kleinen Siegen ist das auf jeden Fall ein großes Wunder: dass es der Bewegung gelungen ist, den drögen Stoff der Volkswirtschaftslehre zu einem begehrten Informationsgut zu machen. Und dabei gut auszusehen.

Sexappeal: Nicht zufällig prangt auf so vielen T-Shirts bei den Gipfeldemonstrationen nach wie vor der Kopf Che Guevaras. Die Globalisierungsskeptiker wissen, wer gut aussieht, und nicht für alle ist das Che-Gesicht schon eine verbrauchte Ikone. Die Italiener haben wieder einmal am besten begriffen, wie man wilde Schönheit inszeniert: Anlässlich des Weltwirtschaftsgipfels vergangenen Juli in Genua rannten viele junge Männer mit nacktem Oberkörper durch die Straßen der Altstadt und zeigten, dass Globalisierungsskepsis nicht nur durch Punk und Machokult, sondern auch durch Fitnessstudios hindurchgegangen ist.

Die ersten Fernsehberichte über die Vorbereitungen der Protestierer auf den nächsten G-8-Gipfel in Kananaskis in den kanadischen Rocky Mountains liefen schon. Gefilmt wurde die junge Frau aus Deutschland, die in ihren abgewarzten, aber gut sitzenden Klamotten schon in den unwegsamen Bundesstaat Alberta gereist war und sehr flüssig darüber Auskunft gab, warum man sich Monate vor dem Ereignis schon in alpinen Techniken aller Art übt. Hinreißend sah sie aus, und sie hatte Spaß.

Oberflächen sind wichtig. Nicht nur für die Kameras, auch für die eigene Souveränität. Natürlich liegt es nicht am Aussehen der Bewegung, dass sie so erfolgreich ist. Sie hat bloß derart viel Sympathie seitens der Medien eingeworben, dass die Fernsehsender eher die ansprechenden als die unfreundlichen Gesichter zeigen – übrigens mit der auffälligen Ausnahme 1. Mai 2001 in London. Der Berliner Bewegungsforscher Dieter Rucht hat auf diesen kommunikativen Ausreißer hingewiesen, als die britischen Zeitungen dies nahezu geschlossen als chaotisch-aggressives Spektakel verrissen.

Es ist das Prinzip Offenheit, das die neue Bewegung kennzeichnet, die so neu ja gar nicht ist, aber von genügend Leuten als neu wahrgenommen wird und deshalb Projektionsfläche von ganz persönlichen Hoffnungen geworden ist. Da passiert was, die sind nett, da kann ich mitmachen. Viele ehemals Bewegte und von den Grünen notorisch Enttäuschte suchen eine neue Heimat, darunter auch diejenigen, die schon immer herumgenervt haben – sei es in der Stadtteilkonferenz, in der Radlergruppe oder auf dem Rosa-Luxemburg-Kongress. Einige Ortsgruppen von Attac, so heißt es, müssen aufpassen, nicht von der – stellenweise – zu Dogmatismus neigenden Gruppe „Linksruck“ übernommen zu werden.

Aber solange das Lächeln der Attac-Vertreter auf den Diskussionspodien breiter ist als das ihrer Gegenüber, braucht man sich um die Zukunft der Bewegung nicht zu sorgen.

ULRIKE WINKELMANN, 29, ist Redakteurin im Inlandsressort der taz.