Worte wie ein Bumerang

„Es geht hiernur umeinen Menschen,nämlich um mich.“

aus Den Haag CAROLINE FETSCHER

Der alte Mann stand am Beckenrand des Schwimmbads und erzählte. Im Bassin gab es kein Wasser, nur etwas Müll. Die Liegewiese um das Becken herum war zerlöchert von den Pflöcken der UNO-Flüchtlingszelte. Es war die erste Aprilwoche 1999, kurz nach Beginn des Kosovokrieges, und der alte Mann mit der Filzkappe war vor wenigen Tagen nach Albanien gekommen. Gelandet war er in einem Flüchtlingslager, das man für hunderte andere in Tiranas Vergnügungspark aufgeschlagen hatte. Die Ärzte sagten, was wir denen vor allem geben müssen, ist Valium, damit sie schlafen, damit sie sich beruhigen. Der alte Mann konnte sich nicht beruhigen. Vielleicht war er deshalb umringt von Reportern. Eine Geschichte brachte er aber nicht zusammen. Er schien vielmehr wie verfolgt von einer Liste von Namen, dutzenden, die er immer wieder aufzählte. Alles Namen aus der selben Familie, aus seiner, der Familie Rexhipi im Dorf Celina. Alle ermordet von serbischem Militär oder Paramilitär – wie, das konnte er nicht erzählen. Wichtig war ihm, dass wir die Namen richtig schreiben, und er gab sich Mühe, sie zu buchstabieren.

Monate später im verschneiten Winter besuchten wir die Gräber von Celina. Sie lagen am Dorfrand, geschmückt mit Plastikblumen, über den Plastikblumen transparente Folie wie ein Symbol für den Wunsch, den Tod fernzuhalten. Auf die Gräber der Kinder hatten Schulfreunde oder Geschwister Buntstifte und Lineale gesteckt, Schulsachen, die nie mehr gebraucht werden würden. Auf vielen Holzlatten der Gräber fand man den Namen der Familie des alten Mannes, Rexhipi. Auf manchen Gräbern gab es Fotografien junger Männer in UÇK-Uniform und mit Waffe, in der klischeehaften Pose des Kämpfers, aufgenommen von Amateurfotografen und sehr bunt.

Lichtjahre entfernt scheinen der alte Mann und die Gräber von Celina, wenn man jetzt in Den Haag den Prozess gegen den prominentesten Angeklagten im Jugoslawientribunal für Kriegsverbrechen beobachtet. Hier geht es um den Mann, der verantwortlich sein soll für ungezählte Geschehnisse wie die Morde im südwestkosovarischen Celina. Es geht um Slobodan Milošević, im Untersuchungsgefängnis des Nordseebadeortes Scheveningen einsitzend seit 28. Juni 2001. Seit einer Woche ist der Prozess eröffnet, der mindestens zwei Jahre dauern soll.

In einem 1955 errichteten ehemaligen Versicherungsgebäude ist das International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY) untergebracht. Die drei Gerichtssäle sind nüchtern und geschmackvoll eingerichtet, blau bespannte Metallsessel, Arbeitstische aus hellen verschränkten Holzstreben, Computermonitore und Mikrofone an jedem Platz. Kameras zeichnen alle Vorgänge im Saal auf, Besucher betrachten den Saal durch eine Scheibe aus Panzerglas.

Hier sieht man den Mann sitzen, geboren im August 1941 in Požarevac im heutigen Serbien, dem die Anklage in 66 Klagepunkten Verbrechen vorwirft, von Völkermord und Komplizenschaft mit Völkermord über Deportation, Folter und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wie Codenamen werden die Taten einzelnen Orten zugeordnet: Vukovar, Višegrad, Srebrenica, Suva Reka, Djakovica, Izbica. „Wusste er von den Vorgängen? Wusste er, was geschah?“, fragt Ankläger Geoffrey Nice, 1945 geboren, Oxford-Absolvent, mit unbeirrbarem Blick durch die Brillengläser. Er antwortet sich selbst: „Er wusste es.“ An oberster Stelle in der Befehlskette von Armee, Innenministerium und Polizeikräften sei der jugoslawische Expräsident bestens über „ethnische Säuberungen“ und andere Gräuel informiert gewesen, habe diese angestiftet oder wissentlich und straffrei geschehen lassen.

Etwa achteinhalb Prozessstunden lang, bis Mittwochmittag letzter Woche, hört sich der Angeklagte die Darlegungen von Mister Nice an. Dabei wechselt sein Mienenspiel zwischen aufgesetztem Desinteresse und Hohn, eine der ihm offenbar vertrautesten Emotionen. Sein Hohn hat viele Schattierungen. Er kann sich in Blinzeln äußern, fast witzig, kann undurchdringlich sein, brutal zur Schau gestellt oder sanft in sich hineinlächelnd, und ist nie ohne Raffinesse und Kalkül. Dann kommt Milošević endlich zu Wort. Hat er sich vorher mit seinem Reservoir an Gesten und an Blicken aus dem immer etwas zerknautscht wirkenden Gesicht begnügen müssen, hat er jetzt Sprache und Rede, seine alten Waffen, zur Verfügung. Fast alle seine Ausführungen begleitet Milošević in einer Mischung aus kalter Distanz und Explosivität. Diese Mischung war es wohl, die oft sein Gegenüber gebannt hat. Seine Strategie ist klar: Ich wusste von nichts, bin für nichts verantwortlich, war nicht am Ort, habe nichts gesehen, habe nur Aufständische bekämpft, schuld sind die anderen. Dennoch: Er verrät viel mehr von sich, als er will und glaubt, wenn man die Subtexte aus seiner Darlegung herausschält und sie aufmerksam liest. Diese Methode bringt keine gerichtsverwertbaren Ergebnisse, ist aber aufschlussreich.

Zur größten Ironie der Eröffnungspräsentation des Angeklagten gehört der Titel des Fernsehfilms, den er, der ein Mediendiktator war, zu Anfang einspielen lässt: „Es begann mit einer Lüge.“ Wie immer geht es ihm um die Lüge der anderen. Aber unwillkürlich verlockt diese Strategie des Angeklagten dazu, zu bemerken, dass er über sich spricht – ausschließlich von und über sich. Hört man genau hin, sagt er alles. „Es geht hier nur um einen Menschen, nämlich um mich“, schleudert er dem Gericht entgegen. In den Augen der Anklage, die ihm individuelle strafrechtliche Verantwortung vorwirft, sagt er, „bin ich wohl ein Übermensch!“. Er mokiert sich: „Für sie habe ich wohl magische Kräfte.“ Angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die ihm vorgehalten werden, geht er auf keinen einzigen der 66 Anklagepunkte an irgendeiner Stelle seiner Rede konkret ein.

„Sie wollen michnach Nürnbergbringen und dieRollen umkehren!“

Seine Version der historischen Wahrheit baut er aus den Elementen zusammen, für die Freud einst die Begiffe Verdrängung, Verschiebung und Verdichtung erfand. Gerade die ungebremste, häufig assoziative Rede lädt dazu ein, den Angeklagten probeweise aus diesem Blickwinkel wahrzunehmen. In seinem Assoziationsfluss mäandert Slobodan Milošević von einem Szenario zum nächsten, Paranoia und Tatsachen zu einem populistischen Gebräu mischend.

Thema Verdrängung: „Nur Nazis hätten auf so massive Weise Dörfer attackiert“, erklärt er zu einem Angriff der Nato. Dass deren, auch von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch kritisch beurteilten Fahrlässigkeiten und Fehler juristisch keine Kriegsverbrechen darstellen, da ihnen die dazu erforderliche kriminelle Intention fehlte, unterschlägt Milošević ebenso wie er die Bilder von hunderten brennenden Dörfern in seinen drei Kriegen auslöscht oder auslöschen will. „Als ich von Lagern gehört habe, habe ich mich sofort erkundigt. Man hat mir erklärt, dass es nur Durchgangslager für Gefangene sind.“ Es gab also keine Lager, und wenn doch, dann nur legitime, harmlose Lager.

Thema Verschiebung: Auf seine Weise ist dem Angeklagten klar, dass es eine Orgie der Zerstörung gegeben hat, und er führt Fotos zum Thema vor, serienweise: Die von der Nato getroffenen Dörfer Surdulica und Jablanica, die Altstadt von Prižren, bombardiert Ende April 1999, ein weiterer kleiner Ort bei Prižren, überall Ziegelschutt und zerborstene Mauern, verkohlte Dächer, eingestürzte Minarette, Tote unter Trümmern. Der Kommentar des Angeklagten: „Das sieht so aus, als hätte hier nur jemand ausprobiert, wie im Spiel, wie viel er eigentlich kaputt machen kann.“ Erstaunlich, diese Assoziation, hier sei ein infantiler verantwortungsloser Berserker am Werk gewesen. Wie kommt sie zustande? Eine Antwort bietet sich an: Milošević spricht von sich.

Dem Tribunal, das sich dagegen entschied, Verfehlungen der Nato im Fall Kosovo vor Gericht zu bringen, hält er vor: „Sie haben also Ihre Kompetenzen selbst festgelegt!“ Er spricht von seiner ureigensten Art der Anmaßung und Gesetzesferne. „Illegal“, „voller Lügen“, „ungeheuerlich“, „entsetzlich“, „grauenvoll“, „traumatisierend“: Ob er von den Handlugen des Tribunals oder den Taten der Nato spricht, es sind Worte, die wie im Bumerangflug wieder bei ihm landen.

Was tun der Westen und das Tribunal im Verein mit den Medien der Welt? „Sie wollen die Völker blenden, die Bosnier und Kroaten, die sie in den Krieg getrieben haben, um Jugoslawien zu zerschlagen.“ Die Rede ist vom Angeklagten, der aber hier das Opfer darstellt. Als einer, der wie der Messias „hier gekreuzigt werden soll“, als ein Häretiker, der der „Inquisition“ in die Hände fiel, und doch nur ein Vertreter der Serben ist, die er als Kollektiv gern zitiert: „Jeder Mann in Serbien weiß …“, „allen in Serbien ist bekannt …“. Auch die Kinder zitiert er auf diese Weise: „Jedes Kind auf dem Planeten weiß …“, „jedem Kind ist doch klar, dass …“

„Nur Nazishätten auf somassive ArtDörfer attackiert.“

Als Serbe hat Slobodan Milošević, so sein Entwurf, nicht nur für sein Land, sondern das ganze Abendland gekämpft, gegen „aus Saudi-Arabien angereiste Mudschaheddin, die Säbel dabei hatten, um Köpfe abzuschlagen“. Nicht er wollte ein Großserbien, sondern die Albaner ein Großalbanien, und auch die Österreicher und andere Westkräfte wollten ein Großalbanien schon seit dem 19. Jahrhundert, um ein Gegengewicht zur slawischen Übermacht auf dem Balkan zu bilden.

Serbiens Partisanen bekämpften die Nazis, er, Slobodan Milošević wird heute von „Neonazis“ und „Neokolonialisten“ verfolgt. Das kulminiert in der Feststellung: „Sie wollen mich nach Nürnberg bringen und die Rollen umkehren!“ So verrät er, was er kennt und tun will: die Rollen umkehren. Darin ist er nicht nur Meister der Verschiebung, sondern auch der unterstellten, absichtlichen Verschiebung durch seine Gegner.

Thema Verdichtung: Wo er sich aus dem Arsenal der Geschichte bedient – Säbel, Bauern, Dörfer – wird sie zu einem Phantasma aus virtuellen Baussteinen. Von Maschinengewehren und Plünderungen, Vergewaltigungen und Vertreibungen, Elementen des Terrors im Boden- und Bürgerkrieg, ist kaum zu hören, wenn der Diktator erzählt. Auch nicht von den berüchtigten Sondereinheiten und paramilitärischen Gruppen, die so adoleszente Namen trugen wie Drina-Wölfe und Arkan-Tiger. Hingegen hört man vom Amselfeld, dem Ursprungsmythos serbischen Heroismus, dem Ort, wo „Serben“ 1389 gegen „Türken“ kämpften, die 600 Jahre darauf in der Gestalt von bosnischen und kosovarischen Muslimen wieder aus den Katakomben der Geschichte auferstanden. In keinem Augenblick sah das trotzig verschnürte Gesicht des Angeklagten gelöster und selbstvergessener aus, als während der wenigen Minuten am Dienstag, in denen die Anklage Passagen aus seinen Reden in Kosovo einspielte. Jene vom 24. April 1987 und die berühmte vom 28. Juni 1989, dem Gedenktag der Schlacht vom Amselfeld. Wie aus einer Trance erwachend schüttelte Milošević kurz den Kopf, als das Video ausgeschaltet wurde. Später wird er sagen: „Das war eine gute Rede!“ Am Dienstag musste er kurz lachen, verlegen fast, und einen Moment lang entstand bei allen im Saal eine amüsierte Symphatie mit ihm, die sich keiner hätte vorstellen können. Eine ungewollte komische Komplizenschaft, über die man dann selbst lächeln musste. Das verging rasch und verlor sich in den Stunden, die er dann beanspruchte, um zu reden und Fotos zerstückelter Leichen zu zeigen. Zerstückelung gehört zu seinem Arsenal – er hat ein zerstückeltes Land hinterlassen und zerstückelt nun die Wahrheit, pausenlos.

Nur einmal noch verliert er die Fassung, scheint es, als die Anklage den Brief serbischer Reservisten zitierte, gerichtet an ihn, Milošević und andere hohe Funktionäre. Namentlich und offen erklärten die Männer, es sei mit ihrer Soldatenehre nicht vereinbar, wozu man sie im Krieg bringt: „Wir werden gezwungen, unmoralische Handlungen zu begehen, Erschießungen von Kroaten und Muslimen“, schrieben sie. Das Dokument liegt auf dem Tisch, mit Unterschriften, Namen, Datum, unwiderlegbar. Die Augen des Angeklagten werden schmal, er nimmt den Stift in die Hand und macht Notizen, vielleicht kritzelt er auch nur irgendetwas. In dem Zweifel, der jetzt auf seinem Gesicht zu lesen ist, als er aufblickt, ahnt man zum ersten Mal auch einen Anflug von Verzweiflung – und Trauer.