Vom Teufelsberg nach Louisiana

Der 73-jährige Berliner Türke Hüseyin Yildirim wurde 1989 in den USA zu „lebenslänglich“ verurteilt – wegen Spionage für die DDR. Weil die ihre Agenten nicht mehr austauschen kann, hat er kaum eine Chance auf Freilassung. Nur sein Sohn hofft noch

von JENS GERDES

Jetzt, wo die Bäume ohne Blätter stehen, präsentiert sich das Panorama in seiner vollen Pracht. Träge räkelt sich die ruhige Stadt vor den Erhebungen des Berliner Grunewalds am Olympiastadion in der fahlen Sonne. Hier und da stoßen die geröteten Gesichter vereinzelter Spaziergänger weiße Raureifwölkchen in die Winterluft. Ganz oben, auf der Spitze des Teufelsbergs, verwildert das Gelände der ehemaligen amerikanischen Radarabhörstation. Schon lange sind die früher mal rot spiegelnden Sechzigerjahre-Glasscheiben des Hauptgebäudes stumpf, die zweisprachigen Warnschilder verwittert.

Ja, sein Vater hat dort „einige Sachen gemacht“, damals, als das Gelände noch No-go-Area war. Das bestreitet der 50-jährige Baytekin Yildirim überhaupt nicht. „Aber das hat doch heute keine Gültigkeit mehr!“ In seinem Wohnzimmer in Neukölln lässt er sich mit gequältem Gesichtsausdruck in den Sessel zurücksinken. „Er hat für die DDR spioniert. Aber die BRD hat doch alles übernommen. Warum nicht die Menschen? Ich verstehe nicht, warum dieser 73-jährige Mann, der ohnehin bald stirbt, festgehalten wird.“ Zögernd fügt der Sohn hinzu: „Außerdem – dreizehn Jahre Haft sind doch genug. Das ist meine persönliche Meinung.“

Die Rede ist von Hüseyin Yildirim, Baytekins Vater. Der hatte ab 1980 in der amerikanischen Abhörstation im Grunewald zu arbeiten. Als Mechaniker. Mitte der Achtzigerjahre wurde er von der „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA), dem Geheimdienst der DDR, kontaktiert. Er willigte in eine Zusammenarbeit ein und begann zu spionieren. Seine Aufgabe: das Aufkaufen geheimer Informationen von korrupten amerikanischen Militärfunktionären. Einer war bereit, Yildirim mit Informationen zu beliefern: der Offizier James W. Hall (siehe Kasten).

Doch 1988 beging Yildirm einen entscheidenden Fehler. Er besuchte eine ehemalige Kollegin vom Teufelsberg in den USA – und wurde dort prompt festgenommen. Bereits ein halbes Jahr später, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer, folgte das Urteil: „lebenslänglich“. Die Möglichkeit einer vorzeitigen Bewährung wurde im Urteil ausdrücklich ausgeschlossen. Seit seiner Festnahme hat Yildirim mittlerweile 13 Jahre in verschiedenen amerikanischen Hochsicherheitsgefängnissen verbracht.

Letzten Oktober wurde Hüseyin Yildirim verlegt. Der Strafgefangene Nummer 09542-018 ist vom Hochsicherheitsgefängnis Lompoc, Kalifornien, in das Hochsicherheitsgefängnis Pollock, Louisiana, verlagert worden. Eine Maßnahme, die seinem derzeitigen Anwalt James Nichols aus Santa Monica ebenso unnötig wie drakonisch erscheint – schon allein deshalb, weil mit dem Ende von Nichols Besuchen der einzige regelmäßige gefängnisexterne Sozialkontakt abbricht.

„Früher waren wir mehrmals im Jahr da, jetzt nur noch ab und zu“, erklärt Baytekin Yildirim. Nicht etwa weil das Interesse nachgelassen hätte. Im Gegenteil. „Wenn ich das Geld dafür hätte, würde ich sogar drüben leben.“ Aber genau das fehlt dem arbeitslosen Maschinenbauingenieur. Und die Kosten für jede einzelne Besuchsreise sind hoch.

Beim letzten Besuch, rechnet Baytekin Yildirim vor, hätten die Flüge für ihn und seine Mutter mit rund 1.300 Euro zu Buche geschlagen. Die billigste Unterkunft für zwei Personen und 14 Tage: rund 1.500 Euro. Die Hochsicherheitszone des Gefängnisses liegt nicht gerade zentral – der günstigste Mietwagen: 600 Euro für zwei Wochen plus mindestens 100 Euro an Spritkosten. Und neben der allgemeinen Nahrungsversorgung verschlingt allein die tägliche Automatenverpflegung während der etwa siebenstündigen Besuchszeit im Gefängnis leicht einmal weitere 20 Dollar.

Wesentlich günstiger sind da die wöchentlichen Telefonate. Wenn Yildirim am Wochenende aus Berlin anruft, muss alles schnell gehen. Die Begrüßung. Das rasche wechselseitige „Wie geht’s?“. Hüseyin Yildirim schildert kurz seine gegenwärtigen Lebensverhältnisse. Dann noch ein knapper Report aus Deutschland über den aktuellen Stand der Aktivitäten in seiner Sache, und schon mahnt eine Aufseherstimme, das Gespräch zu beenden. Viel Geld kann auf diese Weise nicht vertelefoniert werden: Seit der Begrüßung sind nicht einmal drei Minuten vergangen.

Vor dem Ende des Kalten Krieges mussten sich Agenten in der Regel keine allzu großen Sorgen um ihre Zukunft machen: Wurde ein Spion geschnappt, dann war es meist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Gegenseite einen enttarnte. Im Austausch erlangten dann beide Agenten ihre Freiheit zurück. Im späten Dezember 1988 festgenommen, konnte Hüseyin Yildirim allerdings kaum noch auf Unterstützung durch seine Auftraggeber bauen. Das DDR-System war in Auflösung begriffen, der Stasi und damit auch der HVA zog es förmlich den Boden unter den Füßen weg.

Der ehemalige HVA-Chef Markus Wolf bezeichnet Yildirims Schicksal sogar als seine größte persönliche Belastung. Außerdem: „Mit dem Ende des Kalten Krieges gab es überhaupt keinen Westagenten mehr, der in einem Staat des ehemaligen Warschauer Vertrags eine Strafe verbüßte.“ Amerikanische Siegerjustiz? „Wer sich als Verlierer des Kalten Krieges ungerecht behandelt fühlt, muss solches Umgehen als Siegerjustiz empfinden“, sagt Wolf. Und wird noch schärfer, indem er von Vergeltung an Yildirim spricht. „Der Abschreckung kann das Urteil ja wohl nicht mehr dienen!“

Seit 1995 wird Yildirim von Rechtsanwalt James R. Nichols jr. betreut. Unentgeltlich, weil die Finanzmittel der Familie aufgebraucht sind. Rechtlich gibt es aber ohnehin kaum noch Chancen, etwas zu seinen Gunsten zu bewirken. Yildirim hat nur noch eine Möglichkeit, das Gefängnis lebend zu verlassen: Präsident George W. Bush müsste ihn persönlich begnadigen.

Doch der 73-Jährige vertraut sich da lieber einer Instanz an, deren Vergebung er sich sicherer ist. Sein Sohn in Berlin zeigt auf ein verglastes Stoffbild an der Wand, von seinem Vater im Gefängnis gefertigt. Ein farbenprächtiges Ornament ist in die Mitte gemalt, eingerahmt von den Worten „In the name of Allah – the benificent, the merciful“: Im Namen Allahs – des Wohltätigen, des Gnädigen. „Er ist ein sehr künstlerischer Mensch“, erklärt Baytekin Yildirim und lächelt zum ersten Mal ein wenig. Dann wird er gleich wieder ernst: „Mein einziger Wunsch ist es, dass er die wenigen Jahre, die er noch zu leben hat, in Freiheit verbringen kann. Wenn nicht hier, dann in der Türkei.“