Ein Sozialstaat muss aktivieren

Das neue Grundsatzprogramm der Grünen setzt auf Eigenverantwortung. Wer das für neoliberal hält, kommt über eine anonyme Versorgungsgesellschaft nicht hinaus

Mit Verordnungen und VerbotenVerhalten zu steuern funktioniert erfahrungsgemäß schlecht

Im neuen Grundsatzprogramm der Grünen, das jetzt vom Bundesvorstand vorgeschlagen wird, gibt es eine deutliche Betonung von Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit des Einzelnen für die Gestaltung der Gesellschaft. Das Individuum mit seinen Rechten und Pflichten erhält einen deutlichen Stellenwert. Das gute Leben möglichst aller Menschen wird als Ziel grüner Politik in den Vordergrund gerückt. Die Konstruktion des „Systems“, das es zu verändern gelte, tritt in den Hintergrund gegenüber Begriffen wie „Selbstbestimmung“, „Freiheit“ und „Verantwortung“, die den Duktus des neuen Programms bestimmen.

Die bisherige Diskussion um den Entwurf des Programms zeigt, dass einige aus der linken Tradition der Grünen dies als einen Schritt in Richtung Neoliberalismus missverstehen. Sie setzen Selbstbestimmung gleich mit Selbstverwirklichung auf Kosten anderer oder gar Selbstermächtigung.

Dies Recht wiederum könne sich nur das bürgerliche Individuum mit den entsprechend ausgeprägten Ellbogen erlauben, genau genommen eine kleine Schicht der Gewinner der Marktwirtschaft. Vergessen würden alle, denen die Verhältnisse es gar nicht gestatten, ihre Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben zu nutzen. In der linken Tradition wird damit nahezu der größte Teil der Gesellschaft als „Opfer der Verhältnisse“ definiert, die der kleinen Schicht von Mächtigen ausgeliefert sind. So erhalten Politik und Staat eine überdimensionierte soziale Schutzaufgabe gegenüber der großen Mehrheit der Bevölkerung – auch denen gegenüber, die selbst die Aufgabe und die Möglichkeiten hätten, zum Schutze anderer beizutragen.

Der Marx’sche Satz lautet: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Daraus ist in der linken Tradition die Umkehrung entstanden, erst die freie Entwicklung aller mache die freie Entwicklung eines jeden möglich. Die soziale Gestaltung der Gesellschaft wird schnell fast ausschließlich als die staatliche Konstruktion des Sozialstaates verstanden – und damit werden die gesellschaftlichen Funktionen und Leistungen der einzelnen Bürger gering geachtet.

Solche Haltungen – auch bei den Grünen – haben mit dazu beigetragen, dass sich auch große Teile der gut verdienenden Mittelschichten subjektiv auf die Seite der Unselbstständigen geschlagen haben, die sich für diese Gesellschaft nicht verantwortlich fühlen. Wir bemerken dies im Bildungswesen, im Gesundheits- und Sozialsystem. Diese Apparate explodieren, ohne dass ihre Leistungen ihren Kosten entsprechen. Ein wesentlicher Fehler solcher Systeme – neben vielen anderen – ist, dass Menschen nicht in ihrer Verantwortung für sich selbst gestützt werden.

Im Bildungssystem zum Beispiel, das in hohem Maße von den personalen Eigenanteilen lebt, erleben wir drastisch, welche kontraproduktiven Auswirkungen es hat, wenn diese eigene Verantwortung nicht akzeptiert wird. Alle Beteiligten beklagen sich über die Missstände: dass Schüler immer unkonzentrierter würden, Eltern sich zu wenig um die Kinder kümmerten, Lehrkräfte überfordert seien. Aber als Rezept wird in erster Linie nach mehr Geld vom Staat gerufen.

Die Externalisierung von Schuld ist ein beliebtes Verhaltensmuster. Für Misserfolge werden Dritte – zu große Klassen oder zu geringe Mittel – verantwortlich gemacht. Bildung ist nur durch die einzelne Person möglich und ohne das pädagogische Verhältnis zwischen Personen undenkbar. Deshalb sind diese auch in hohem Maße für ihre Bildungsprozesse verantwortlich und verantwortlich zu machen.

Hier soll nicht die Verantwortung des Staates für die Rahmenbedingungen geleugnet oder vermindert werden. Aber dies zu betonen ist nicht das Problem unserer Republik. Die Verantwortlichkeit der einzelnen Personen, der Erwachsenen, wie sie Kindern gegenübertreten, ist eben auch in hohem Maße von Werthaltungen der Einzelnen abhängig und muss durch sie akzeptiert werden. Hannah Arendt hat dies unübertroffen als Anforderung formuliert: „Wer die Verantwortung für die Welt nicht mitübernehmen will, sollte keine Kinder zeugen und darf nicht mithelfen, Kinder zu erziehen.“

Ähnliche Umorientierungen sind bei den sozialen Sicherungssystemen und den Zugängen zum Arbeitsmarkt notwendig – und werden auch entsprechend im Grundsatzprogramm gewichtet. Nicht der bevormundende Staat ist für Grüne erstrebenswert, sondern der aktivierende, der Sozialstaat, der bürgerschaftliche Gruppen als Kooperationspartner begreift und fördert. Der Nachbarschaften stärkt, kleine soziale Netze, Arbeit von Selbsthilfeinitiativen, Vereine und gesellschaftliche Gruppen in die Solidarität einbezieht und weniger auf anonyme Versorgung zielt. „Lebendiges und vielfältiges bürgerschaftliches Engagement ist eine unverzichtbare Voraussetzung für eine solidarische Gesellschaft“, heißt es im Grundsatzprogramm.

Die Betonung von Selbstbestimmung, Freiheit und Verantwortung hat nichts mit Neoliberalismus zu tun. Eine Gesellschaft, die integriert, Chancen der Teilhabe für alle erreichen will, muss ihre Bürger dazu aktivieren, zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beizutragen und mit dafür zu sorgen, dass Menschen nicht aus dem System fallen oder ihre Chancen verlieren. Nur diejenigen, die sich wirklich selbst nicht helfen können, sollten Anspruch auf Unterstützung geltend machen können.

Die traditionalistische Linke entlässt auch die Leistungsstärkeren aus dieser Verantwortung. Selbst gut verdienende Beamte und Angestellte fühlen sich eher als Opfer und nehmen ihren eigenen Handlungsauftrag als positive Gestalter dieser Gesellschaft nicht wahr. Gerade die Grünen sind aufgrund der Herkunft ihrer Mitglieder eher der bürgerlichen Mittelschicht zuzurechnen und diese muss sich ihrer eigenen Verantwortung bewusst werden.

Die Grünen sind bürgerlich-mittelständischer Herkunft. Gerade sie dürfen sich nicht verweigern.

Die Herkunft der Grünen aus ökologischen und linken Traditionen hat zu höchst widersprüchlichen politischen und ideologischen Konstruktionen geführt. Die ökologischen Wurzeln, die die Bewahrung der Schöpfung und Prinzipien der Nachhaltigkeit zum Zentrum haben, setzen darauf, dass Menschen für ihr eigenes Handeln Verantwortung übernehmen und sich selbst als Störer oder Bewahrer der Natur definieren. Die Tradition der Linken hat demgegenüber eine hohe Staatsfixierung bewahrt, sie setzt auf externe Mechanismen, die auf dem Verordnungs- und Verbotswege Verhalten steuern sollen – was erfahrungsgemäß nur sehr unzureichend funktioniert.

Es ist höchste Zeit, dass die Grünen wahrnehmen, wie sehr das Individuum zur Gestaltung der Gesellschaft beiträgt und beizutragen hat. Dies kann auch mit einer Programmdiskussion gestützt werden.

SYBILLE VOLKHOLZ

Fotohinweis:Die Autorin ist grüne Bildungspolitikerin und war von 1989 bis 1990 Schulsenatorin von Berlin. Derzeit koordiniert sie die Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung und betreut das Projekt Partnerschaft Schule-Betrieb der IHK Berlin