Das heere Glück der Steppe

Kein fließend Wasser. Keine Läden. Und Jurten zu 8.000 Euro das Stück. Das Nomadenlebenin Kirgisistan ist teuer geworden – aber die Freiheit bleibt. Ein Besuch bei Sommernomaden

Aber die Freiheit ist auch nicht mehr das, was sie einmal war

von ANDREA STRUNK

Muratbeck schreit so laut, dass die gestern geborenen Kälbchen verschreckt den Kopf drehen. Mit riesigen Schritten sprintet er auf seine Mutter Najgul zu. Die melkt gerade eine der Stuten, aber damit ist jetzt Schluss. Aufgeregt zieht Muratbeck sie am Arm in die Höhe. Was er sagt, ist nicht zu verstehen, weil der Steppenwind so forsch über die Halme fegt, dass jeder Ton sofort zu den Gipfeln des Tien-Shan und von dort vermutlich direkt in die Wolken getragen wird. Aber wie er lacht, wie Najgul ungläubig die Hände vor den Mund schlägt, ist Sprache genug.

Muratbeck, 12-jähriger Junge aus Kirgisistan, der bislang nur den Son-Kul-See und die Dörfer im Tölök-Tal gesehen hat, entdeckte soeben, dass er zwar nicht die Welt, die Welt aber ihn kennt. Ein Teil der Welt zumindest. Auf Seite 382 des Asienreiseführers fand er ein Foto von sich. Strahlend auf einem Pferdewagen, im Hintergrund die verschneiten Berge. Nun ist ein Asienführer kein Modemagazin, aber Muratbeck genügt es, um sich an jenem und an vielen weiteren Tagen wie ein „Star“ zu fühlen. Selbst sein Vater Ryskulbeck, mit dem Kalpak, dem hohen weißen Hut der Kirgisen, sonst eher eine würdevolle Erscheinung, lacht aus vollem Halse und verstrubbelt seinem Sohn stolz die Haare. „Mag die Erde auch groß sein“, sagt er, „manchmal zeigt sie uns, dass sie nur eine Kugel in immer währender Umdrehung ist.“

Muratbeck ist ein Steppenkind. Zumindest im Sommer. Jedes Jahr im Mai, wenn die Kinder drei Monate Ferien haben und in den Lehmhäusern im Tal die Hitze unerträglich wird, zieht die Familie – Vater, Mutter, Bruder, zwei Schwestern, Onkel, Tante und Cousinen – mit den Tieren aus dem Tölok-Tal auf die Hochebene. Sie reicht von der Straße, die über den Dolon-Pass führt, bis an die jenseitigen Ufer des Son-Kul-Sees auf der einen, bis an den Horizont und bis an die Berge des Tien-Shan auf den anderen Seiten und liegt dem Himmel so nahe, dass man nachts meint, die Sterne greifen zu können. „Größere Freiheit“, sagt Ryskulbeck, „kann es nicht geben.“

Das Leben der kirgisischen Sommernomaden ist hart. Auf den Hochebenen wächst kein Baum, geheizt wird mit getrocknetem Dung, und die Freiheit ist auch nicht mehr, was sie einmal war. Die Jurten, die traditionellen kirgisischen Wohnzelte von Ryskulbeck, sind „geleast“. Die Kunst der Jurtenherstellung beherrschen nur noch wenige Handwerker, und die verlangen umgerechnet 8.000 Euro für ein schmuckloses Exemplar. Ein Halbnomade wie Ryskulbeck, der nur seine Tiere und sonst kein Einkommen hat, kann so viel Geld nicht sparen. Überhaupt, sagt Ryskulbeck, gehöre das Nomadentum eigentlich bereits der Vergangenheit an, denn Besitz sei wichtiger geworden als Freiheit. Früher habe ein Nomade nicht mehr besessen, als er auf seine Pferde laden und mit sich nehmen konnte: eine Jurte, ein paar Habseligkeiten, warme Decken zum Schlafen. „Sie aßen und tranken, was die Tiere und die Natur hergaben. Sie hatten kein Geld, und wenn ich mir meine schmutzigen Som-Scheine so ansehe, die jeden Tag weniger wert sind, dann kann es denen auch nicht wesentlich schlechter gegangen sein.“

Sechs Jurten hat Ryskulbeck. Zwei zum Schlafen. Eine zum Kochen. Und drei für die Touristen, die er seit diesem Sommer aufnimmt. Viel, sagt er, habe er nicht zu bieten. Keine Toilette, keine Dusche. Beides würde er gerne aufstellen, indes, ihm fehle das Geld. Nur Gastfreundschaft, die könne er unbegrenzt geben. Ob das für europäische Touristen genug sei?

Ryskulbeck ist einer der Letzten seines Berufsstands. Schon in der Sowjetzeit haben die meisten das Nomadenleben zugunsten der Kolchose aufgegeben. Manche erzwungen, manche freiwillig. Seit der Unabhängigkeit Kirgisistans 1991 ist die Lage für alle schwierig. Die Preise steigen stetig, und ebenso stetig wird der Som abgewertet. Wer noch ein Nomade sein will, muss sich bescheiden können. Von Brot und Rahm, Reis, Milch, Fischen und der Liebe zur grandiosen Landschaft leben. Den Kindern ist die Armut egal. Trotz zu dünner Kleidung gegen den kalten Wind, trotz durchlöcherter Schuhe sieht man sie meist lachen. Die täglichen Pflichten werden mit Singen verkürzt. Die Jungen helfen beim Melken. Schleppen die schweren Milcheimer in die Jurte, rühren mit dem Stab regelmäßig das Kymyz, die vergorene Stutenmilch, durch, um die Gärung anzutreiben. Hacken die Dungfladen, mit denen der Ofen geheizt wird. Die Mädchen kochen, backen Brot, sitzen geduldig neben den Männern, schweigen, schenken Tee nach, sobald die Schalen leer sind.

„Größere Freiheit“, sagt Ryskulbeck, „kann es nicht geben“

Abwechslung bringt der Besuch von Verwandten. Kommt einer mit dem Auto aus dem Tal, gibt es Zigaretten und Zeitungen für die Erwachsenen, Rosinen für die Kinder. Meist aber nähern sich die Gäste mit dem Pferd vom anderen Ende der Hochebene. Schon lange bevor sie ankommen, sind sie zu sehen. Die ganze Familie auf einem Tier. Der europäische Tourist reibt sich die Augen und fragt sich bei diesem wie bei vielen anderen Bildern, ob er in einem Film gelandet ist. Etwa, wenn ein Reiter im Galopp angeprescht kommt, als sei er Teil der Horden von Dschingis Khan. Über die Ebene gehen Frauen in langen Kleidern, am Horizont zieht eine Herde, und nachts schnaubt direkt neben dem eigenen Ohr bisweilen ein Pferd. Kann das Wirklichkeit sein?

Muratbeck und seine Geschwister stellen sich dieselbe Frage umgekehrt. Kichernd werden wir beim Zähneputzen beobachtet. Scheu kauen sie auf den mitgebrachten Schokoriegeln, riechen an der Niveacreme. Die Neugier erreicht ihren Höhepunkt, als wir eine Polaroid hervorkramen. Muratbeck scheitelt sich die Haare mit Wasser. Die Mädchen malen sich die Lippen an. Scheu stellen sie sich in eine Reihe, blicken ernst in die Kamera. Als aus den Umrissen auf dem Foto langsam Menschen werden und sie sich mit dieser feierlichen Miene sehen, löst sich die Spannung. Erst kichert Muratbeck, dann fallen die Mädchen ein, die Frauen, die herbeigerufenen Nachbarn, schließlich lacht auch Ryskulbeck. Über die ganze Ebene dröhnt das. Fast hätten sie an jenem Tag das Melken vergessen. Zum Dank lehren sie uns nach Nomadenart reiten. Die Arme um unsere Taille geschlungen, sitzen sie auf dem blanken Pferderücken und treiben die Tiere zu Höchstleistungen an. Uns bleibt nur ein Stoßgebet, nicht einmal Festklammern kann man sich an den Sätteln. Die Kinder amüsiert es.

Abends sitzen wir im letzten Sonnenschimmer vor den Jurten. Muratbeck versucht, bekannte Namen im Reiseführer zu finden. Kirgisistan, Usbekistan, Iran, Schwarzes Meer, Armenien. Und dahinter? Noch mehr Länder? Riesige Meere? So wie das, in dem die Titanic versank, will er wissen und stimmt sofort das Titellied aus dem Film an. Auf Kirgisisch. Da schweigt sogar der Wind, ganz sachte nur hebt er die Töne und weht sie vorsichtig weiter, bis die Mädchen aus der Jurte kommen, sich links und rechts an uns schmiegen und mit Teenager-Sehnsuchtsaugen in den Schmalzsong einfallen. Kuschelnde Kinder, eine Steppe und ein Lied: Wer sollte da nicht glücklich sein?