Your disco needs you

Corinna May gewinnt erstmalig den deutschen Vorentscheid zum Grand Prix, Joy Fleming wird nur Zweite – ist jedoch froh, dass sie nicht nach Tallinn fliegen muss. Harmonischer geht’s nicht – hätte nicht das Publikum die Kelly’s unfair ausgepfiffen

von JAN FEDDERSEN

Dass Corinna May und ihr Song „I Can’t Live Without Music“ den doppelten TED gewinnen würde, und zwar vor Joy Fleming („Joy To The World“) und der Gruppe Normal Generation („Hold On“) war im Grunde ja schon nach ihrem Vortrag wahrscheinlich: Die blinde Bremerin war mit ihrem Discolied am entschlossensten. Anders als bei den Proben, bei denen die zweimal beim Grand Prix Gescheiterte stets etwas unsicher wirkte. Locker baute sie ungeprobte Phrasierungen in ihre drei Minuten, und zeigte somit der Konkurrenz, dass sie es mag, vor Millionen am Mikrofon zu stehen.

Da konnten selbst Joy Fleming und Normal Generation nicht mithalten. Aber wie Corinna May hatte die bekennende Mannheimerin hörbar Freude am Auftritt, an dem Gefühl, siegen zu können und der Aussicht, noch berühmter zu werden. Joy später: „Corinna war toll. Zweite zu werden, ist auch schön. Und mir ist ein Flug nach Tallinn erspart geblieben.“ Kein Happyend also für die Frau, die nicht gerne in Flugzeuge steigt, aber eines eben für Corinna May. Vorne lagen also (bei einer für den NDR befriedigenden Quote von 8,1 Millionen Zuschauern) zwei Acts, die in den Herzen des TV-Volks der Rehabilitation bedurften: die Fleming, weil sie überhaupt gut ist, und die May, weil sie einmal als Siegerin (1999) disqualifiziert und einmal (hinter Stefan Raab 2000) nur Zweite wurde: Jetzt also darf sie international ran. Und weil ihr Komponist Ralph Siegel ist, muss sie auch nicht damit rechnen, doch noch disqualifiziert zu werden. Siegel, apropos, ward so glücklich,wie seit Nicoles Sieg 1982 nicht. Mehr noch: Erstens war er nicht wieder das Objekt der Häme (ach, Siegel, der schon wieder), und zweitens schien er irgendwie dankbar. Denn erstmals hatte er es geschafft, den TED aus knapp einer Million Anrufen zu gewinnen – und nicht irgendeine Hintergrundmauschelei.

Offen ist nur, ob Corinna Mays Song wirklich ein Hit wird: Kann man ihn beim Sex hören, beim Abwaschen, Kartoffelschälen, oder gar in der Loungeversion, bei der zählt, dass sie als Hintergrundmucke nicht stört? Abwarten – was zählt, sagt Meister Siegel: „Beim Grand Prix geht es nicht um Hits, sondern um ein gutes Abschneiden. Corinna kann sehr gut abschneiden, das habe ich im Gefühl.“

Schöne Gefühle, freundliche Bekundungen der Verlorenen am Ende, selbst Ireen Sheer weinte nur ein wenig. Insgesamt sind die einzigen Verlierer die Menschen, die in der Kieler Ostseehalle die Kellys auspfiffen. Das war, um das Mindeste zu sagen, infam. Zur Rache werden sie, vemutlich, den einzigen Charts-Hit dieses Abends haben. Michael Kucharski, Kelly-Verantwortlicher des Polydor-Labels, konnte sich trotzdem nicht erklären, weshalb sein Produkt nicht einmal unter die ersten drei kam: „Unfassbar, ich finde es unbegreiflich.“

Eine denkbare Version: Die drei Acts, die es nach vorne schafften, waren die Wochen zuvor niemals Gegenstand des Bild-Boulevards. Keine inszenierten Skandale, keine vermeintlichen Schlammschlachten: Die Kellys, so gesehen, wurden Opfer ihrer Teilnahme am Bild-Wettbewerb um die negativste Ausstrahlung. Die Zeitung, die sich weitgehend von der Recherche von Fakten fernhielt, erlitt im übrigen ihren ganz eigenen Schiffbruch: Die von deren Leserschaft gewählte Sängerin Isabelle sang einen Song Dieter Bohlens – und landete, so hört man, auf dem vorletzten Rang. Daraus folgt: Wer von der Bild promotet wird, mag einige Tage die Schlagzeilen haben, wird aber garantiert nicht gewinnen.

Der NDR könnte jetzt mit Corinna May ein Problem bekommen. Stellungnahmen waren nicht zu erhalten, aber – anders als Michelle, Stefan Raab oder Guildo Horn – hat die Siegerin kein Image, das sich dankbar im Fernsehen ausweiden lässt. Sie ist stimmlich glänzend – und ist doch keine gute Figur, die Skandale abwirft. Der letzte Act, der ähnlich schwer zu promoten war, hieß Sürpriz. 1999 sang sie „Reise nach Jerusalem“ und schaffte dortselbst einen dritten Platz. Man hat nie wieder von ihnen gehört. Der Komponist war: Ralph Siegel.