nebensachen aus prag: Über eine Spezies, die nicht verschwindet
Ewige und ehemalige Dissidenten
Kürzlich in der Kirche. Die pure Neugier hatte mich dazu bewogen, mich zu der gotteslästerlichen Zeit von halb zehn Uhr Sonntagmorgens in den kalten Barock-Bau in der Prager Altstadt zu begeben. Denn dort predigt ein bekannter Exdissident und Kultrockmusiker, der bei den kommenden Wahlen auch noch ins tschechische Parlament einziehen will.
Was den Dissidenten nämlich am meisten stinkt, ist das ihre Zunft keinerlei politische Macht im Lande hat. Sämtliche Versuche, sich auf der parteipolitischen Bühne zu etablieren, sind in den vergangenen zehn Jahren an internen Streitereien gescheitert.
In Tschechien gibt es verschiedene Sorten der Marke ehemaliger Dissident. Weit verbreitet ist zum Beispiel die, die in der regimekritischen Untergrundgesellschaft der 70er und 80er so richtig aufgegangen sind und sich bis heute keine andere Raison d’être zugelegt haben. Als Zeichen ihres Protests gegen die Gesellschaft an sich und um sich das gegenseitige Erkennen leichter zu machen, sind sie der Dissidentenuniform der Siebziger treu geblieben: lange Haare, Rauschebart und John-Lennon-Brille. Seine Tage verbringt der ewige Dissident damit, kritische Novellen oder lyrische Gedichte zu verfassen, abends sitzt er meist deprimiert über den Zustand der Welt vor seinem Bierglas in der dissidentenfreundlichen Stadtteilkneipe und raucht filterlose Zigaretten.
Fast ebenso zahlreich wie die Marke ewiger Dissident ist der Exdissident. Er unterscheidet sich vom Ewigen allein dadurch, dass er in seiner Dissidentenzeit wirklich nur gegen die kommunistische Gesellschaftsordnung war. Deshalb hat der Exdissident, oft trägt er übrigens den Ehrentitel „Freund Václav Havels“, den Sprung ins kritische Intellektuellentum geschafft. Der Exdissident versteht sich als Wachhund der tschechischen Demokratie. Als gern gesehener politischer Kommentator in der tschechischen Presse, versucht er den tschechischen Bürger mit seiner Kritik an allem, was gerade aktuell ist, zum Nachdenken anzuregen. Es gibt kein Thema, zu dem der Exdissident nicht Experte ist.
Weil Exdissident aber keine glaubwürdige Berufsbezeichnung ist, muss er sich immer wieder was Neues einfallen lassen. Greift er das geschichtliche Selbstverständnis des Durchschnittstschechen an, nennt er sich Historiker. Wird er gesellschaftskritisch, ist er Soziologe, beleuchtet er die Medienszene des Landes, ist er Publizist.
Doch zurück zu unserem Gottesdienst. Da spielte sich inzwischen eine interessante Szene ab, ähnlich wie in der TV-Serie „Grüss Gott, Herr Pfarrer“. Wegen der anvisierten Politprominenz, ließ eine tschechische Tageszeitung den Herrn Pfarrer bei der Arbeit ablichten. Ich kam gerade dazu, als der Kirchenälteste die Fotografin nach der Predigt vor versammelter Gemeinde zusammenbrüllte, wie sie „so frech“ sein könnte, während der Andacht den Auslöser zu betätigen. Es sei ihm auch egal, dass der Pfarrer ihr das erlaubt habe, schrie der Älteste weiter, sie habe schließlich ihn zu fragen. Trotz sämtlicher Beleidigungen und Androhungen von Konsequenzen rückte die Fotografin den Film nicht, wie gefordert, heraus.
Es siegte der bürgerliche Mut, den die tschechischen Dissidenten seit einem Vierteljahrhundert predigen. Gott sei Dank, Herr Pfarrer.
ULRIKE BRAUN
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