piwik no script img

Brüsseler Babylon

Aus Brüssel NICOLE JANKOWSKI und DANIELA WEINGÄRTNER

Es ist ein Kerngedanke der EU, dass sich die Menschen in ihrer Muttersprache unterhalten können

Es hätte eine Generalprobe werden können. Da im Konvent, der ab diesem Donnerstag eine Verfassung für die EU ausarbeiten soll, erstmals auch Delegierte aus den Kandidatenländern sitzen, wollten die Dolmetscherdienste in Brüssel ein Kunststück versuchen: Jeder sollte in der Versammlung reden dürfen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Aus diesem 22-sprachigen Babylon wäre in die elf Arbeitssprachen der EU übersetzt worden – aber nicht umgekehrt. Doch selbst mit diesem „asymmetrisch“ genannten Modell gäbe es in den kleinen Glaskabinen, die sich an den Wänden der Brüsseler Sitzungssäle entlangziehen, ein ziemliches Gedränge.

Dann aber empfahl der Sprecher von Konventspräsident Giscard d’Estaing den an Einzelheiten interessierten Journalisten einen Blick in die „Erklärung von Laeken“. Sie regelt die Arbeitsgrundlagen des Konvents und sagt: „Der Konvent wird in den elf Arbeitssprachen der Union arbeiten“. Das heißt: Esten, Slowenen und Türken und all die anderen sind beim Konvent benachteiligt.

Für die Sprachdienste bedeutet das lediglich eine Galgenfrist. Denn wenn sich die Union erweitert, wird das Prinzip der Mehrsprachigkeit, das bisher für alle Plenarsitzungen im Europaparlament und für viele EU-Konferenzen gilt, auf eine harte Probe gestellt werden. Damit das System auch noch funktioniert, wenn aus elf Amtssprachen mehr als zwanzig werden, laufen die Vorbereitungen bereits auf Hochtouren. „Wir können nicht abwarten, bis die Länder beigetreten sind“, erklärt Tony Scott, Berater beim SCIC, dem Dolmetscherdienst für Kommission und Rat. „Dann wird es zu schwierig, kurzfristig geeignete Leute zu finden.“ Mittlerweile reist der Brite regelmäßig in die Kandidatenländer, um den Markt vor Ort zu erkunden und Tests durchzuführen. Nicht jeder Dolmetscher genügt den hohen Ansprüchen des SCIC. Vor allem die Französischkenntnisse sind ziemlich gering.

Daher halten die Organisatoren engen Kontakt zu den Universitäten, um die Ausbildungswege auf die Bedürfnisse der EU zuzuschneiden. „Wir wollen zeigen, dass es einen enormen Bedarf an Topleuten gibt – und dass die Länder sie bereitstellen müssen“, sagt Tony Scott. Die Fachleute in Brüssel unterstützen sie dabei: Sie bieten Beratung an, stellen Lehrmaterial zur Verfügung und schicken erfahrene Dolmetscher in die Kurse vor Ort. Und so ist Scott zuversichtlich, dass im voraussichtlichen Beitrittsjahr 2004 alles klappt. „Wir haben ja schon ein paar Erweiterungsrunden hinter uns“, sagt er. Die jetzige werde halt etwas größer ausfallen.

Doch schon jetzt wird heftig darüber diskutiert, wie man verhindert, dass die Zahl der Dolmetscher ins Unermessliche wächst. Futuristisch klingt etwa folgende Überlegung: Während die Politiker in einem Raum sitzen und debattieren, begleiten die Dolmetscher die Diskussion von einem zweiten Raum aus – dem „Bunker“. Das würde das Platzproblem lösen. Viele Konferenzsäle sind nämlich nur mit elf Sprecherkabinen ausgestattet.

Die Vorschläge sollen auch beim Sparen helfen. Zwei Euro wendet jeder Steuerzahler bisher im Jahr für die Sprachendienste auf – daran soll sich nach der Erweiterung nicht viel ändern. „Natürlich werden die Kosten steigen – aber die Zahl der EU-Bürger steigt mit“, erklärt Ian Andersen vom SCIC. Außerdem sei es schließlich ein Kerngedanke der europäischen Demokratie, dass die Menschen sich in ihrer Muttersprache an die Institutionen wenden könnten.

Daher sehen viele keine Alternative zum bisherigen Sprachensystem. „Das ist keine Kosten-Nutzen-Frage. Hier geht es um Respekt vor nationaler Eigenständigkeit“, erklärt Klaus Bischoff, der sich beim SCIC um die baltischen Staaten kümmert. Estland, Lettland und Litauen nehmen in der Sprachenfrage eine Sonderstellung ein. Nach der Unabhängigkeit von Moskau mussten die drei ihre Landessprachen erst einmal wiederentdecken. Und auch wenn die Beitrittsverhandlungen auf Englisch laufen, ist sich Bischoff doch sicher: „Wenn es später in technischen Sitzungen einmal richtig kitzlig wird, wird jeder automatisch in seine eigene Sprache zurückfallen.“

Daher ermutigt der SCIC seine eigenen Mitarbeiter, die neuen Sprachen zu erlernen. Thierry Teulet hat im September mit Estnisch begonnen – und ist begeistert. „Dieses Land ist so klein, hat aber in zehn Jahren so viel erreicht“, erklärt er seine Leidenschaft. Darüber hinaus sei die Sprache für ihn eine intellektuelle Herausforderung. Das Estnische habe rein gar nichts mit den romanischen Sprachen zu tun, die er schon beherrscht. „Das Einfachste ist die Aussprache“, sagt Teulet, hält inne, lacht und fügt hinzu: „Eigentlich das einzig Einfache.“

Viele Probleme kommen auch auf den Übersetzerdienst zu, der die unzähligen Papiere der EU-Institutionen in die Amtssprachen übersetzt. Daher schöpfen sie schon jetzt verstärkt Einsparmöglichkeiten aus. So können mit einem EDV-Programm bereits übersetzte Textbausteine in anderen Dokumenten wiederverwertet werden. Eine große Begriffsdatenbank in allen Sprachen wird gerade aufgebaut. „Wir sollten nur noch endgültige Fassungen übersetzen und auch die Länge der Texte reduzieren“, fordert Brian McClusky vom Dolmetscherdienst. Das wäre dann immerhin ein weiterer Vorteil der EU-Erweiterung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen