Frei bleiben, um jeden Preis

Die entführte kolumbianische Präsidentschaftskandidatin und Kämpferin gegen die Korruption, Ingrid Betancourt

Sie wusste um die Gefahr, sie war gewarnt worden. Ingrid Betancourt sollte nicht versuchen, nach San Vicente de Caguán zu fahren, mitten ins Zentrum der gerade von den Militärs wieder eroberten Guerillazone. Sie fuhr doch, am vergangenen Samstag. Sie wollte an einer Kundgebung von Menschenrechtsorganisationen in San Vicente teilnehmen – doch dort kam sie nie an. Ihr Wagen geriet in einen Hinterhalt – seither ist Ingrid Betancourt von Guerilleros der „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“ (Farc) entführt. Die Forderungen der Entführer sind unklar.

Vielleicht macht es leichtsinnig, wenn man seit vielen Jahren Morddrohungen ausgesetzt ist. Die 40-jährige Betancourt ist es gewohnt, bedroht zu werden. Moralisch, engagiert und energisch kämpft sie gegen Korruption im Land – egal auf welcher Seite des politischen Spektrums.

1995, kaum als 35-Jährige auf dem Ticket der Liberalen Partei ins Parlament gewählt, nennt sie vor Journalisten die Namen der fünf korruptesten Parlamentarier. Nur wenig später weist sie nach, dass der Präsidentschaftswahlkampf des damaligen Präsidenten Ernesto Samper mit Drogengeldern des Cali-Kartells finanziert war.

Es begannen die Drohungen, die versuchten Besuche von Unbekannten, die Angst um ihre beiden Kinder Melanie und Lorenzo, damals 7 und 13 Jahre alt. Angst hatte Ingrid Betancourt, als sie das Foto einer zerstückelten Kinderleiche in der Post fand. Angst hatte sie, als jemand versuchte, auf sie zu schießen. Und unglaubliche Angst hatte sie, als ein Mann sie im Dezember 1996 warnte, ihre Entführer seien bereits unterwegs – sie nimmt ihre Kinder, sitzt binnen Stunden mit ihnen im Flugzeug nach Neuseeland, wo die Kinder fast ein Jahr verbringen.

Sie selbst ist schon nach wenigen Wochen wieder zurück. 1997 macht sie öffentlich, dass auch sie vom Cali-Kartell Geld angeboten bekommen hat. Sie wird Senatorin, verlässt die Liberale Partei und gründet ihre eigene Gruppierung, „Grüner Sauerstoff“.

Als die Kinder wiederkommen, vereinbart sie klare Regeln: Wer entführt wird, soll versuchen zu fliehen: Es sei besser, erschossen zu werden, als vergewaltigt oder gedemütigt: „Manchmal“, sagt sie zu ihren Kindern, „ist der Tod die einzige Möglichkeit, frei zu bleiben.“

Betancourt kommt aus einer gebildeten Familie, besuchte das französische Gymnasium, studierte in Paris Politologie – und ging doch zurück nach Kolumbien. Ihr jüngstes Buch, „Die Wut in meinem Herzen“, ist gerade auf Deutsch, im vergangenen Jahr in Frankreich erschienen – nur die spanische Übersetzung steht noch aus. In Kolumbien wird Betancourt durchaus für ihren Mut bewundert – doch Chancen, am 26. Mai zur Präsidentin gewählt zu werden, hatte sie nicht.

Mit der Guerilla stand sie genauso auf schlechtem Fuß wie mit dem politischen Establishment. Als Präsident Pastrana Anfang Januar bereits einmal den Friedensprozess für beendet erklärt hatte, äußerte Betancourt Verständnis. Ebenso klar aber bekämpft Betancourt die rechtsextremen Paramilitärs.

Ein freies Leben zu führen, so hat sie immer wieder gesagt, bedeutet, sich nicht einschüchtern zu lassen, bedeutet, die Entscheidung über Leben und Tod selbst zu treffen. Es bleibt zu hoffen, sie lebend wiederzusehen.

BERND PICKERT