Ein Zettel voll Unrecht

aus Halle NICOLE JANZ

Ein dunkelhäutiger, schmächtiger Mann schleppt sich aus dem Zug auf den Bahnsteig, er sieht kaum, wohin er tritt. Sein linkes Auge ist geschwollen, blutet, an seinem Fuß klafft eine Bisswunde, überall hat er blaue Flecken. Er hält ein Messer in der Hand. Daneben stehen zwei Männer mit Glatze und Springerstiefeln, die nach Alkohol riechen. Der eine hält eine Leine, an der ein Stafford-Mischling zerrt.

So muss das Bild ausgesehen haben, das sich am letzten Tag im Januar abends um halb zehn den zwei Bundesgrenzschutzbeamten am Bahnhof Halle-Ammendorf bot. Der Schaffner im Regionalzug 16336 von Halle nach Eisenach hatte sie gerufen.

Verschiedene Schlussfolgerungen können aus dem Bild gezogen werden. Erstens: Ganz klar ein Überfall von zwei Neonazis auf einen Ausländer, so sieht es der Ausländerbeauftragte von Sachsen-Anhalt. Zweitens: Gemeinschaftlich begangene gefährliche Körperverletzung an einem Asylbewerber erkennt die Staatsanwaltschaft Halle in dem Bild. Drittens: Eine Schlägerei zwischen Rechten und einem Ausländer.

Das Letztere werden die beiden BGS-Beamten wohl gedacht haben, vermutet Gero Gerewitz, der Sprecher des Grenzschutzes in Halle. Gerewitz versucht zu erklären, wie das passierte, was die Staatsanwaltschaft Halle später ein „unsensibles Verhalten“ und der Ausländerbeauftragte Günter Piening „unvorstellbar“ nennt.

Die Beamten unterziehen die glatzköpfigen Männer einem Alkoholtest und nehmen ihre Personalien auf: Yves M. aus Weißenfels und Tino K. aus Rottenburg in Bayern, beide 1,6 Promille. Dann dürfen der 21- und der 22-Jährige ihren Kampfhund nehmen und nach Hause gehen. Der Verletzte wird mit dem Krankenwagen in die Klinik in Halle gefahren.

Yonas Gebre* kann nicht verstehen, dass die Skinheads wieder freigelassen wurden. Der Äthiopier trägt die Bilder im Kopf, die ihn den Vorfall im Zug nicht vergessen lassen. Wenn der 31-Jährige von dem Überfall erzählen soll, fangen seine Lippen zu zittern an. Er war mit drei Bekannten unterwegs, sie wollten zu seinem Aslyheim in der Nähe von Halle fahren. „Ich und ein Freund hatten den Zug gerade noch erreicht, die zwei anderen nicht mehr“, sagt Yonas Gebre. „Als der Zug losgefahren war, wollte ich auf die Toilette gehen. Die war einen Waggon weiter.“ Die Skins sahen ihn, bevor er sie sah.

Sie riefen „Nigger!“

Yonas Gebre sitzt in einem Café in Halle, seine Hände wandern unstet vom Bund seines Rollkragenpullovers an den Rand der silbernen Brille, über das krause kurze Haar und wieder zum Pullover. Seine körperlichen Wunden sind mittlerweile, nach über zwei Wochen, verheilt. Er hat feine Gesichtszüge, geschwungene Augenbrauen, kleine Hände. Der Äthiopier spricht leise, der Dolmetscher muss sich vorbeugen, um ihn zu verstehen. „Ich habe die beiden mit dem Hund bemerkt und wollte schnell weg. Aber sie kamen hinterher und erwischten mich in dem kleinen Abteil zwischen den Waggons.“ Er stockt.

Den Rest der Geschichte erzählt er eine halbe Stunde später. Er hat sich überwunden, noch einmal einzusteigen in den Zug. Er muss ja sowieso wieder anfangen, Zug zu fahren. Der Waggon ist voll, so wie an jenem Abend im Januar. Yonas Gebre steht zwischen den Abteilen und stößt mit einer Hand nach vorn in die Luft. So habe der eine sein Butterflymesser gehalten. „Nigger!“ und „Motherfucker“ hätten sie gerufen und es habe nach nach Alkohol gestunken.

Als der Freund dazukam, bedrohten sie auch ihn mit dem Messer. Der rannte weg, Gebre aber war eingekeilt. Einer nahm dem kläffenden, 20 Kilo schweren Hund den Maulkorb ab. Yonas Gebre haut sich mit den Händen auf die Brust. „Hierhin sprang der Hund, und ich bin auf den Boden gefallen“, sagt er. Dann deutet er auf seinen linken Fuß und verzieht das Gesicht. „Hier hat mich der Hund gebissen, und ich konnte ihn nicht abschütteln, er hing fest an mir.“

Die Männer schlugen auf ihn ein, immer wieder, der eine auf den Rücken, der andere ins Gesicht, so dass sein Auge blutete, der eine trat in den Bauch, sie hörten nicht auf. „Es hat so viel geblutet.“ Die Strecke von Halle nach Ammendorf dauert laut Zugplan genau sechs Minuten. In Gebres Erinnerung war es über eine Viertelstunde. „Dann fiel dem einen das Messer auf den Boden, und ich habe es aufgehoben“, erzählt er. Da zogen die beiden plötzlich den Hund weg und gingen durch den nächsten Waggon weiter.

Hat denn keiner geholfen? Gebre schüttelt fast unmerklich den Kopf. „Ich habe nichts gesehen, vielleicht hat einer die Polizei gerufen, aber es kam keiner zu mir.“ Er bat den Schaffner um Hilfe. Am nächsten Bahnhof, in Ammendorf, wartete der Bundesgrenzschutz.

Die Skinheads sind inzwischen verhaftet worden – zwei Wochen nach der Tat. Als die Akte zur Staatsanwaltschaft Halle kam, hatten die Mitarbeiter den Fehler des BGS sofort erkannt und Haftbefehle erwirkt. Die Täter sitzen in Untersuchungshaft. Die BGS-Beamten dürfen in der Öffentlichkeit nicht über den Vorfall reden. BGS-Sprecher Gerewitz sagt: „Die Sache wird untersucht. Aber man kann den Beamten auch nicht einfach den schwarzen Peter zuschieben.“

Yonas Gebre hat von der Verhaftung aus der Zeitung erfahren. Die Staatsanwaltschaft hatte erst drei Wochen nach der Tat eine Pressemitteilung herausgegeben. Gebre hätte, als er noch in Äthiopien lebte, nie für möglich gehalten, dass ihm einmal so etwas passieren könnte. In der Hauptstadt Addis Abeba arbeitete er als Footballtrainer. Wegen politischer Verfolgung, die er nicht näher erklären will, floh er vor drei Jahren nach Deutschland. Seinen heute neunjährigen Sohn ließ er bei den Eltern zurück. Doch davon möchte er nicht gern reden. Eine andere Geschichte, die sich zwei Jahre vor dem Überfall der Skins ereignete, will er erzählen.

Die zweite Geschichte

Nachdem Yonas Gebre im Zug den Angriff geschildert hat, ist er ins Büro der Mobilen Opferberatung in Halle gegangen. Hier verliert er die Nervosität, seine Hände liegen ruhig auf dem Tisch. Sie halten einen kleinen Zettel, auf dem mit Spiegelstrichen Worte aufgelistet sind. Erinnerungen an die Ungerechtigkeit, die der Äthiopier akribisch aufgeschrieben hat. Als wolle er endlich die Gedanken loswerden, die ständig in seinem Kopf herumspuken.

Genau vor zwei Jahren, im Januar, gab es eine Drogenrazzia in dem umzäunten Containerdorf, in dem Yonas Gebre und 140 andere Flüchtlinge schliefen. Die Beamten stürmten in sein zehn Quadratmeter großes Zimmer, das er sich mit einem anderen teilte, und nahmen ihn fest. Er dachte zuerst, es wäre ein Überfall. Der Vorwurf: Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. „Der Richter hat dann gesagt, bis die Sache geklärt ist, kommen Sie in Untersuchungshaft“, erinnert er sich. Das Klären der Sache dauerte über 16 Wochen – dann wurde er freigesprochen. „Die Belastungszeugen haben in der Hauptverhandlung ausgesagt, sie kennten ihn nicht“, heißt es im Urteil. Er erhielt 2.000 Mark Entschädigung und wurde ins Flüchtlingsheim zurückgeschickt. Doch die Zeit im Gefängnis kann Yonas Gebre nicht vergessen.

„Als ich aus dem Gefängnis kam, war ich ein anderer Mensch“, sagt Yonas Gebre. Zissi Sauermann, die Sozialarbeiterin, die ihn betreut, versucht, ihm einen neuen Wohnheimplatz in einer größeren, anonymeren Stadt zu besorgen. Sie sagt, in Yonas Gebres Fall spielten mehrere Faktoren zusammen: alltäglicher Rassismus, eine unsichere Lebenssituation, Perspektivlosigkeit, kein Geld, keine Arbeit. Und dann der Überfall. Yonas Gebre kann nicht begreifen, warum er wochenlang unschuldig in Untersuchungshaft sitzen musste, während die Skinheads, die ihn verprügelt haben, erst einmal freigelassen wurden.

Yonas Gebres hat Angst. Früher fürchtete er sich nur vor den abweisenden Blicken auf der Straße. Die kleine 30.000-Einwohner-Stadt bei Halle, deren Namen Gebre aus Angst nicht in der Zeitung lesen möchte, hat schon lange Probleme mit Rechtsextremismus. Einige Asylbeweber aus seinem Heim dealen mit Drogen. Das schürt die Vorurteile auch gegen die, die es nicht tun. Eine Gruppe von 40 jungen Neonazis hat lange Ausländer und linke Gruppen terrorisiert, bis 500 Leute friedlich durch die Stadt zogen und dagegen demonstrierten – jetzt soll es besser geworden sein.

Die Angst bleibt. Yonas Gebre fürchtet sich vor Hunden, vor Polizisten, vor Nazis, vor Zügen, vor der Zukunft. „Ich kann das nicht vergessen. Ich muss immer an das Gefängnis denken und an den Überfall.“ Auf die Frage, was er sich wünscht, lacht er verzweifelt. „Ich habe eigentlich keine Wünsche mehr.“ Er schüttelt den Kopf, faltet seinen Zettel zusammen. Und dann setzt er noch einmal an. Zum ersten Mal ignoriert Yonas Gebre den Dolmetscher und sagt auf Englisch: „Wie ein Mensch leben.“

*Name geändert