Tenever revisited

■ Wie lebt es sich eigentlich in der Trabantensiedlung? / Architekturstudenten haben's ausprobiert und eine eigene Vision für das Quartier im Osten entwickelt

Krause-Bauten, Kessler-Block, oberster Stock. Von hier aus hat man die beste Sicht: Auf Tenever, auf das flache Land mit den schmutzig-weißen Hochhäusern mittendrin, auf durchschnittlich elf Stockwerke mit Stacheldraht oder Satellitenschüsseln an den Balkonen. Sechs Monate haben Marco Schemien und Gabriel Benninghaus, zwei Architekturstudenten, sich hier einquartiert, runtergeguckt, alles fotografiert, Ideen aufgezeichnet und Pläne gebastelt. Heraus kam die Vision von einem ganz anderen Tenever – zumindest als Modell für ihre Diplom-Arbeit.

„Umbau statt Komplett-Abriss“, sagen Schemien und Benninghaus über die Hochhaus-Hinterlassenschaften aus den 70ern. Aber so wie es ist, könne man das Quartier nicht lassen. Nicht bei 30 Prozent Leerständen, wo statt Mietern massenhaft Tauben zugezogen sind. Und wo kaum 30 Jahre alte Hochbauten bereits zu architektonischen Altlasten verfallen sind, wie eben jener „Kessler-Block 407“.

Für den Architekten-Nachwuchs ist Tenever ein spannendes Terrain, ein theoretisches Experimentierfeld – und eine Abrechnung mit den „Demonstrativ-Bauvorhaben“ alter Stadtplanung. Allerdings kannten Benninghaus und Schemien Tenever vorher nur „vom Hörensagen und Vorbeifahren auf der Autobahn“. Deshalb sind sie sechs Monate lang jeden Tag nach Tenever gefahren. Dann haben sie ein Atelier in den Krause-Bauten bezogen, oben im 11. Stock, das Problemfeld zu Füßen.

Der größte Fehler damals, sagen sie, war es, die Riesensiedlung mit ihren 4.000 Wohnungen und 6.000 Menschen an den Rand Bremens zu drängen. Das Ganze von der Autobahn eingeschnürt. Nicht mal mit einem Shopping-Center im Zentrum. Auch heute ist der Stadtteil immer noch nicht angebunden, eine Busfahrt in die City dauert rund 45 Minuten.

Inzwischen sind Benninghaus und Schemiel aber auch um einige „interessante“ Erfahrungen reicher: „Trubel wie im Viertel“ haben sie in Tenevers vielen kleinen russischen und türkischen Geschäften entdeckt. „Aber das vergisst man, das geht ziemlich unter bei dem Beton“, sagt Schemien. Dieses Treiben sei aber das Potenzial, das entwickelt werden sollte. Mindestens für eine lebendige Marktstraße, die nach ihren Entwürfen quer durch das Quartier verlaufen könnte.

Auch die Wohnungen sind eigentlich nicht unbedingt schlecht, sagt Schemien. „Sehr hell, sehr groß, manche auf zwei Etagen. Schön geschnitten, Dachterrasse – da waren wir überrascht.“.Von dieser Seite her könne er es sich schon vorstellen, da zu leben – gäbe es nicht das Umfeld: So heruntergekommen, so schwer erreichbar, so ohne eigene Attraktionen. Und vor allem ohne Jobs.

Genau da müsse man ansetzen, um Tenever „lebbarer“ zu gestalten. In ihrer Diplom-Arbeit fantasierten Schemien und Benninghaus dann ein wenig: Zum Beispiel könnten ja einige Uni-Institute nach Tenever versetzt werden, drei Autobahnabfahrten und zehn Minuten vom Campus getrennt. Oder auch die Hochschule für Künste, „die statt in den Europahafen doch auch genauso gut in den Osten hätte ziehen können“. Denn Studenten würden das Ende der Schlafstadt bedeuten, den Anfang von Leben, sie würden Gründe schaffen, nach Tenever zu fahren und nicht mehr daran vorbei.

In ihrem Tenever-Modell sind die Häuser zwar immer noch bombastisch und hoch. Aber: Die Z-förmigen Gebäude würden – wie ohnehin derzeit von der Bremer Investitions Gesellschaft vorgesehen – zur Hälfte eingerissen, damit mehr Licht in die Höfe kommt. Der Kessler-Block dagegen würde stehen bleiben – als potentieller Hochschulstandort. „Mit der alten Substanz kann man noch arbeiten“, meint Schemien, „da gibt es überraschende Lösungen.“

Entstehen könnten weiterhin eine Marktstraße, eine Abfolge von Plätzen sowie ein Bürgerhaus für den Bremer Osten. Außerdem eine Brücke über die Autobahn, um das grüne Land hinter Tenever für die Anwohner erschließen zu können. Und schließlich die Straßenbahnanbindung zur City.

Was von diesen Ideen überhaupt umgesetzt wird, ist allerdings völlig offen. Die Professoren setzten schon mal ein „Sehr gut“ unter die Diplom-Arbeit. Und Schemien und Benninghaus selbst sind „heimgekehrt“ – in die Neustadt beziehungsweise ins Viertel. Dorothee Krumpipe

Die Modelle von Schemien und Benninghaus sind noch bis zum 15. März in der Stadtteilgalerie des „Quartier e.V.“ zu sehen (Neuwieder Str. 44 a). Heute abend gibt es dort den Jean-Luc-Godard-Film „Noten für Debussy“ zu sehen mit anschließender Diskussion über den Abriss einer Pariser Vorstadtsiedlung.