„Verstehen, was geschehen ist“

Die serbische Dramaturgin und Menschenrechtlerin Borka Pavicević über die Verteidigungsstrategie von Slobodan Milošević vor dem UNO-Tribunal in Den Haag, den schwierigen Umgang mit der Vergangenheit und Serbiens Perspektiven für die Zukunft

Interview ANDREJ IVANJI

taz: Was halten sie von Milošević’ Verteidigung vor dem Tribunal?

Borka Pavicević: Indem Milošević hauptsächlich über das Bombardement der Nato und die Verbrechen der albanischen Kosovo-Befreiungsarmee UÇK spricht, schreibt er die vorherigen neun Jahre ab. So vertauscht er Ursache und Folge. Milošević macht das, was er schon immer gemacht hat: Er stellt sich als der Führer dar, der dem Willen des Volkes gefolgt ist, als ob es bei dem Prozess um keine individuelle, sondern eine kollektive Schuld ginge. Das ist genau die Methode, mit der er an die Macht gekommen ist. Viele Menschen schließen sich wieder zusammen und glauben, dass sie Serbien und das Serbentum verteidigen, indem sie ihn verteidigen.

Unternehmen die neuen Behörden etwas dagegen?

Recht wenig. Sie haben mit Milošević’ Weltanschauung nicht klar gebrochen. Wenn die Offiziere, die Vukovar zerstört haben, in Serbien immer noch in Freiheit sind, heißt das dann, dass es für die Politiker, die heute an der Macht sind, in Ordnung war, Vukovar zu zerstören? Die logische Antwort ist positiv. Eine klare Trennung von dem vorherigen Regime würde bedeuten, dass diese Leute in Haag oder anderswo angeklagt wären. So wie Milošević den Menschen hier eine kollektive Schuld unterstellen will, drängen die neuen Machthaber dem Volk ein Schamgefühl auf. Indem sie mit der Auslieferung der Angeklagten für Kriegsverbrechen zögern, schaffen sie den Eindruck, dass diese verkauft werden, dass Serbien nur wegen versprochener Kredite mit Den Haag zusammenarbeitet. Das ist widerlich. So werden die Menschen entmutigt, so wird Depression geschaffen.

Ist es sinnvoll, sich so viel mit der Vergangenheit zu beschäftigen?

Man hört oft von Politikern, dass wir die Vergangenheit vergessen und uns der Zukunft zuwenden sollten, als ob das eine vom anderen zu trennen wäre. Die Frage der Vergangenheitsbewätigung in Serbien ist nicht institutionalisiert, aber die Vergangenheit ist wichtig, um uns mit der Gegenwart und der Zukunft zu verbinden. Jetzt stehen wir mit zehn Jahren Verspätung vor der Transition. Es ist aber zuerst notwendig, dass die Menschen verstehen, was überhaupt in diesem Land geschehen ist. Wenn man das überspringt, bleibt bei den Menschen ein Gefühl der Vergänglichkeit, sie können nicht an die Beständigkeit ihrer Situation glauben. Zwischen dieser unverarbeiteten Vergangenheit und der ungewissen Zukunft, mit einer unzulänglichen, durch die Medien manipulierten Gegenwart wissen die Menschen nicht, wo sie sich befinden.

Was kann der Prozess in Den Haag verändern?

Er kann Menschen das Gefühl zurückzugeben, dass sie für ihre Handlungen verantwortlich sind. Indem Verbrecher nicht bestraft werden, wird diesem Volk beigebracht, dass sich Verbrechen auszahlt. Wenn sie heute Milošević’ engste Mitarbeiter im Parlament sehen, kann das Volk nur denken, dass diese nichts Böses getan haben. Ein großer Fehler war, dass kein Gesetz über Lustration verabschiedet worden ist, ein Gesetz, das Menschen, die im Regime Milošević politisch aktiv waren, das Recht auf öffentliches Leben untersagt. Es wäre korrekt, dass die Leute, die Milošević’ Kriegshetzerei aktiv unterstützt haben, den Mund halten. Ich habe das Gefühl, dass den Aufstand gegen das Regime Milošević nicht seine Kriegspolitik ausgelöst hat, sondern der Umstand, dass es den Menschen existenziell miserabel ging.

Wie sehen Sie die Zukunft Serbiens?

Die nationalistische Euphorie in Serbien, diese populistische Revolution, ist beendet. Um jetzt eine Katharsis zu erleben, müsste es zu einer Erkenntnis der Niederlage kommen. Wir schweben immer noch auf einem Teppich, und es gelingt uns nicht, in der Realität zu landen. Es findet sich keiner in diesem neuen Regime, der sagt: Wir haben einen Fehler gemacht mit diesem nationalistischen Wahn ist es endgültig vorbei. Der Witz liegt darin, dass Präsident Vojislav Koštunica, der den Willen des Volks sublimiert, das nicht so empfindet. Sie können von ihm nicht erwarten, sich im Namen der Serben für irgendetwas zu entschuldigen, wenn er überzeugt ist, sich für nichts entschuldigen zu müssen.