Die vier Finger der Literaten

Es gibt Schriftsteller mit Brille, mit Bauch und mit Intelligenz – doch allen fehlt etwas

Elias Khoury hat vier Finger. Vier Finger an seiner rechten Hand. Woher ich das weiß? Ich habe Augen im Kopf, und denen kann ich trauen. Doch überrascht hat es mich schon, das mit den Fingern. Als ich ihn nämlich sah, auf einer Lesung in Berlin, schien mir seine Hand noch ziemlich intakt. Und das ist wichtig, denn Elias Khoury braucht seine Hand und sicherlich auch alle seine Finger. Schließlich ist er Schriftsteller, Journalist, einer der bekanntesten im Libanon. Es bleibt also die Frage, was mit dem Daumen passiert ist, mit dem Daumen an der rechten Hand von Elias Khoury. Seine Geschichten lassen mich wilde Fantasien spinnen, denn das Leben im Libanon scheint kein einfaches zu sein. Auch meine Freundin, die ich besorgt befrage, ist überrascht, denn noch im vergangenen Jahr, als sie ihn sah, trug er alle seine Finger bei sich. Jedenfalls ist ihr nichts Gegenteiliges aufgefallen. Wieder blicke ich auf sein Foto im Beck’schen Verlagskatalog, aber es gibt mir keine Antwort.

Ich blättere weiter – und bin entsetzt! Ein paar Seiten später stoße ich nämlich auf Iris Murdoch, jetzt zwar tot, doch auf dem Foto noch lächelnd und: mit vier Fingern. Ist das denn möglich? Was ist los mit den Literaten? Wo um Himmels willen lassen sie nur alle ihre Finger? Wo ich auch hinschaue, überall dasselbe Bild. Schriftsteller mit Brille, Schriftsteller mit Bauch, intelligent dreinblickend und wie eine Trophäe im Gesicht: eine Hand. Wahlweise die rechte oder die linke, manchmal sogar beide. Aber trotzdem bietet sich meist derselbe tragische Anblick. Irgendein Finger fehlt immer. Warum machen sie das? Müssen Schriftsteller ihrem Gott Gliedmaßen opfern, um berühmt zu werden? Schwarzweiß, selten in Farbe, schauen sie in die Kamera. Lächeln tun die wenigsten. Aber wieso sollten sie das auch, bei diesem Schicksal?

Ernst bestimmt das Bild, ernst halten sie die feingliedrige Resthand an ihre Wange. Und ich frage mich: Was muss das für ein Gott sein, der sich nicht mit Zehen oder einem Blindarm zufrieden gibt? Ob es das wohl wert ist? Im Hinterkopf taucht ein verstaubter Satz auf und schüttelt sich, dass ich husten muss: Ein Text ist erst dann gut, wenn man ihn sich erlitten hat. Ich fand das immer fragwürdig, nur sehe ich es jetzt in neuem Licht. Nie hatte ich gedacht, dass Leiden so handfest gemeint sein könne. Und, da es schließlich um Verlagskataloge geht, stellt sich bei diesem körperlichen Tribut auch die Frage, ob es eine Opferstaffelung gibt, ähnlich der Preise für Hardcover und Paperback. Für eine erfolgreiche Kurzgeschichte die Fingerkuppe des linken Ringfingers (bei Rechtshändern), wahlweise des rechten (bei Linkshändern) ohne Einbeziehung des Knochens. Für Romane jeweils ein Fingerglied, für Fortsetzungsreihen sind Gelenke gesondert zu berechnen.

Ich halte die Augen offen und suche weiter. Gibt es bestimmte Kerben im Handrücken für Übersetzungen in andere Sprachen? Haben Literaten deswegen die Hände im Gesicht, wenn sie fotografiert werden? Sind Bücher von Schriftstellern mit nur zwei Fingern an der Wange vielleicht besser als die von Zehnfingerigen? Was ist mit denen, die ihre Hände gar nicht zeigen? Sind sie so gut, dass sie mangels Finger ihre Bücher nicht mehr selbst schreiben müssen, sondern nur noch diktieren? Ist daher der Trend zu Hörbüchern steigend? Oder wollen sie nur verheimlichen, dass sie noch alle beieinander haben. Also alle Finger. Ich wittere Betrug. Doch eins ist gewiss: Meine Nase funktioniert genauso gut wie meine Augen. Mindestens. Ich werde dranbleiben. ILKE S. PRICK