: Viel Appetit auf Leben
Das brandenburgische „Haus im Wind“ hat eine wechselvolle Geschichte. Heute wohnen hier 24 behinderte Frauen und Männer – einige schon seit 30 Jahren. Sie haben die Pensionsgrenze längst erreicht. Für die Betreuer ist dieses Alter Neuland
von THILO KUNZEMANN
Der alte Mann sitzt in einem Kinderzimmer und schaut die Wand an. Er lächelt und rührt sich nicht – wie ein Großvater im Bilderbuch. Die Sonne scheint auf die bunt bestickte Tagesdecke. In den Sperrholzregalen stehen Windmühlen und Hubschraubermodelle. Nichts liegt herum, nichts passiert. Hier lebt niemand, dem der Alte vorlesen könnte. Er ist das Kind, und er ist es schon so lange, dass er darüber zum alten Mann wurde.
Mit 59 Jahren gehört Rudi zu einer Altersgruppe behinderter Menschen, die in Nachkriegsdeutschland selten ist. Fast 300.000 geistig und körperlich behinderte Menschen starben bis Mai 1945 – damals war Rudi vier – in den Euthanasielagern der Nazis. In einer kurzen Aktennotiz von 1939 hatte Hitler gefordert, den „nach menschlichen Ermessen unheilbar Kranken“ solle „der Gnadentod gewährt werden“. Mit der Aktion T 4 – benannt nach der Euthanasie-Zentrale in der Tiergartenstraße 4 – sollte die „deutsche Volksmasse durch Rassenhygiene“ gestärkt werden, wie es Hitler bereits in „Mein Kampf“ formuliert hatte. In der Stadt Brandenburg entstand deshalb 1939 eines der ersten deutschen Todeslager für geistig Kranke.
Nur fünfzig Kilometer entfernt, zehn Kilometer nördlich von Berlin, steht das „Haus im Wind“. 1857 als „Rettungsheim für sittlich verwahrloste Jungen“ gegründet, beherbergt es heute 24 behinderte Frauen und Männer. Nach dem Zweiten Weltkrieg wohnten Flüchtlingsfamilien auf dem abgelegenen Anwesen in der Nähe von Marwitz. 1969 fiel das Haus, erneut als Behindertenheim, an die Stephanus-Stiftung. Seit der Wende betreuen Mitarbeiter des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks die Bewohner.
Rudi weiß nichts von der wechselvollen Geschichte seines Heimes. Und würde man ihm von dem Todeslager erzählen, er würde nicht antworten. „Er redet nicht“, sagt Charlotte Bold, die Leiterin des Hauses. Sie steht in Rudis Zimmer und schaut etwas argwöhnisch auf den Fotografen. „Sie dürfen nur Bilder machen, wenn Rudi einverstanden ist.“ Rudi schüttelt den Kopf. „Also keine Bilder“, sagt Frau Bold entschieden. Fürsorglich wirkt das, und doch spricht sie von Rudi, als wäre er nicht im Raum. „Über sein Verhältnis zum Tod können wir nur spekulieren. Aber wie alle Bewohner leidet er und trauert, wenn andere Menschen sterben“, sagt Bold. „Muss ich auch sterben“, habe sie allerdings noch keiner gefragt.
„Nutzlose Esser – weg damit“, so hätten das die Nazis gehandhabt, sagt Bold angewidert. Deswegen bedeutet Rudis Alter Neuland für die Heimbetreuer.
Altenheime für behinderte Menschen gibt es nicht. Normale Behindertenheime wie das „Haus im Wind“ übernehmen deren Aufgaben. Die schleichende Vergreisung bedeutet für die Betreuer: pflegen, waschen, sorgen – jeden Tag ein bisschen mehr. „Menschen mit Down-Syndrom erkranken häufiger und früher als gesunde Menschen an der Alterskrankheit Alzheimer“, sagt Charlotte Bold, die Leiterin des Hauses. Das sei nur eine der neuen medizinischen Erkenntnisse, die sich in der täglichen Arbeit bestätigten. „Mit der Altersstruktur verschiebt sich auch das Konzept des Hauses“, sagt Bold. „Die Pflege wird aufwändiger.“ Mehr Geld wird es dafür nicht geben, auch im Land Brandenburg sind die Haushaltskassen leer. „Aber keiner muss deshalb sein vertrautes Zuhause verlassen“, sagt die Mittvierzigerin. Sie klingt dabei fast trotzig.
Noch wird sie ihrem Anspruch gerecht. Von fünf Bewohner mit Down-Syndrom leidet nur Paul (Name geändert) an Alzheimer. Die Symptome scheinen harmlos. Er sitzt auf seinem Platz in der Wohnküche und isst den Marmorkuchen seiner Mitbewohner. Langsam und bedächtig pickt er die Krümmel auf, schlürft etwas Kaffee dazu und nimmt sich das nächste Stück. „Er meint es nicht böse“, sagt Frau Bold und schneidet neuen Kuchen an. Nach einem Zahnarzttermin durfte Paul den ganzen Tag nichts essen. Nun lässt ihn der Hunger zugreifen. Die Erinnerung an das letzte Stückchen verblasst schnell, der Appetit bleibt.
„Alzheimer ist tödlich“, sagt Bold später, und es klingt, als sei ihr die friedliche Kaffeeklatsch-Atmosphäre ein Gräuel gewesen. Hinter Pauls Krankheit verbirgt sich der schleichende Verlust eines Lebens, einer Biografie. Momentan leide nur sein Kurzzeitgedächtnis, erklärt Bold, irgendwann wird er auch ältere Erinnerungen verlieren. „Eine Heilung gibt es nicht.“ Die Medikamente könnten das Leiden nur lindern, mehr nicht.
Arbeiten kann Paul seit drei Jahren nicht mehr. Jede Stunde begleitet ihn ein Mitarbeiter auf die Toilette. So bleiben ihm die sonst üblichen Windeln erspart. „Auch wenn er sich manchmal wie ein Kind verhält, versuchen wir ihn doch wie einen Erwachsenen zu behandeln.“ Drei, vier Mal wiederholt Charlotte Bold diesen Satz im Laufe des Tages. Er klingt wie ihre persönliche Maxime für den täglichen Spagat zwischen Routine und Respekt.
Würde Paul den Unterschied überhaupt bemerken? Seine Krankheit stellt den Betreuern Fragen, die er nicht mehr beantworten kann. Schweigend sitzt er nachmittags am Fenster. Wartet er auf die Freunde, die aus der Behindertenwerkstatt zurückkehren? Betrachtet er die Schwäne, die manchmal über die Felder bis zum Haus ziehen? „Kann sein“, sagt Christine Bold. „Wir wissen sowieso nicht, was die alles wissen.“ „Was wir hier tun,“ fährt sie nüchtern fort, „ist unsere Arbeit. Wir sind Wegbegleiter. Nicht mehr, nicht weniger.“ Und das kann hart und frustrierend sein, manchmal auch schön – es bleibt Arbeit.
Für Achim ist die Pflicht eine Freude. Er steht frierend, aber glücklich auf der Koppel hinter dem Haus und füttert zwei Ponys mit Zuckerrübenbrocken. Der klebrige Saft rinnt aus ihren Mäulern und verklebt das Fell um ihre Schnauzen, als fräßen sie Zuckerwatte. Begeistert rudert Achim mit den Armen, springt in die Luft und juchzt. Sprechen kann er nicht. In seiner Akte steht, er halte sich für eine Mischung aus Mensch und Pferd. Achim galoppiert nach dem Füttern zufrieden zurück zum Haus. Er will pünktlich zum Kaffee kommen.
Wenn auch die restlichen Bewohner nachmittags von der Arbeit zurückkehren, verschwindet die traumselige Ruhe aus dem Haus. Türen schlagen, Rufe hallen durch die Gänge, aus manchem Zimmer dröhnt Musik. „Haltet die Klappe“, brüllt dann ab und an ein kleiner, faltiger Mann, und die Autorität seiner 72 Jahre sorgt für mindestens fünf ruhige Minuten. Willi arbeitet nicht mehr, er ist Rentner. Wie er das Nazi-Regime überlebte, weiß Charlotte Bold nicht. „Er spricht nicht darüber. Kein Wort.“ Die Behinderung sieht man ihm nicht an. „Die Defizite zeigen sich erst im Gespräch“, sagt sie.
Dazu aber gibt es wenig Gelegenheit. Willi verlässt sein Zimmer selten. Die Tage verbringt er vor dem Radio. Nur freitags steht ihm der Sinn nach etwas mehr Geselligkeit. Dann lädt er zum Kaffeekränzchen. Anfangs durfte nur Charlotte Bold kommen, jetzt erscheinen auch ausgewählte Betreuer. „Er und seine Mitarbeiter. So sieht er das, glaube ich.“ Solange niemand eifersüchtig wird, nimmt sich Charlotte Bold die Zeit.
Die Zigarette danach raucht sie vor der Haustür. „Die Bewohner dürfen ja auch nicht im Haus qualmen.“ Um am Monatsende nicht unter Nikotinmangel zu leiden, müssen die Hausbewohner aber mit ihrem Taschengeld haushalten. Manche können das selbstständig, laufen auch allein in das fünf Kilometer entfernte Velten und kaufen noch Süßigkeiten oder Comics. Andere brauchen auch hier Begleitung. Gänzlich andere Hilfe war nötig, als nach fast dreißig Jahren reiner Männerwirtschaft zwei Frauen ins Haus zogen. Liebeskummer und Beziehungskrach blieben nicht aus.
Vor allem, als Nadja kam. „Eine echte Frau“, sagt Charlotte Bold. Und sie erzählt von „hochdramatischen“ Szenen, als mit dem ersten Freund Schluss war und gleich der Nebenbuhler auf der Matte stand. Sich aus dem Wege gehen oder heimlich treffen – dafür ist das Haus zu klein.
Zurzeit herrscht Waffenstillstand. Von Eifersucht ist nichts zu spüren. Kirchenlieder klingen durchs Haus. Im Eingangsraum sitzt Wolfgang und spielt auf einem Harmonium. Mit seinem braun gebranten Stiernacken und dem Bürstenschnitt sieht er aus wie einer der Handwerker, die im Anbau neue Duschen einbauen. Vor dem 30-jährigen Jubiläum am 21. September sollen die Arbeiten fertig sein. Wolfgang wird dann natürlich auftreten – vor Publikum. Üben konnte er vor einer Woche schon mal. Da spielte er für seinen Freund Uwe ein Geburtstagsständchen. Nach dem gemeinsamen Kaffeetrinken durfte Uwe seine Geschenke auspacken: ein Malheft, Buntstifte, Süßigkeiten und ein Benjamin-Blümchen-Video. Uwe wurde 41 Jahre alt. Er hat noch viel vor sich. Gut so.
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