Der Ernstfall in Kabul – ein Unfall

Zwei tote deutsche Soldaten in Afghanistan – und in Berlin ist alles auf einmal ganz anders als erwartet

BERLIN taz ■ Vor dem Raum „B01 R106“ im Bundesverteidigungsministerium klingelt ein Handy. Sein Besitzer, ein Offizier in Uniform, tritt kurz zur Seite. „Der Große Weiße kommt zurück“, flüstert er zwei Minuten später einem uniformierten Kollegen zu. Der Große Weiße – so nennen sie Verteidigungsminister Rudolf Scharping. Als die Nachricht vom Tod der zwei deutschen Soldaten kam, befand sich Scharping auf dem Weg nach Dschibuti. Jetzt kehrt er zurück. Das politische Signal ist eindeutig: Nur nichts leicht nehmen beim größten deutschen Auslandseinsatz, zumal da die Bundesregierung wegen ihrer Geheimnistuerei in die Kritik geraten ist.

Eine seltsam widersprüchliche Erregung hat sich breit gemacht im politischen Berlin, seit am Mittwoch um 15.06 Uhr die erste Eilmeldung des Ereignisses in Kabul über den Draht ging – ein Gefühl von Ernstfall ohne Ernstfall. Der Tod hat zugeschlagen – aber anders, als es nach der erhitzten Debatte der letzten Tage manche erwartet hatten. Die ersten deutschen Toten gehörten nicht zu den kämpfenden KSK-Einheiten, von deren riskantem Einsatz im Osten Afghanistans zuletzt so viel die Rede war. Auch wurden die beiden Angehörigen der UNO-Schutztruppe in Kabul kein Opfer von Terroranschlägen, mit denen verstärkt gerechnet wird, seit britische UNO-Soldaten in der Hauptstadt unter Beschuss gerieten. Was auch immer man politisch vom Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch halten mag, die zwei deutschen und drei dänischen Soldaten sind bei einem Einsatz gestorben, wie er friedensfördernder kaum denkbar ist: bei der Entschärfung zweier Boden-Luft-Raketen.

So handelt es sich bei dem Vorfall also um einen Unfall, wie er sich theoretisch auch auf jeder „Kampfmittelbeseitigungsanlage“ in Deutschland abspielen könnte. Trotzdem befassen sich in Berlin nur die höchsten Kreise mit dem Unglück: Die Pressekonferenz im Ministerium wird vom Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat geleitet, Bundeskanzler Gerhard Schröder verschiebt seinen geplanten Auftritt zur Arbeitsmarktpolitik, damit die Fernsehstationen beide Ereignisse übertragen können. Unausgesprochen stand dahinter das Empfinden: Die Art, wie Militär, Regierung und Bevölkerung in den nächsten Tagen mit den Toten umgehen, setzt den Ton für einen Einsatz, dessen gefährlichsten Phasen womöglich erst noch bevorstehen.

Nur Stunden vor der Todesmeldung hatte ein Offizier noch gescherzt, wahrscheinlich hätte die Bundeswehr vor Ort nicht mal Fahnen dabei, wie sie die Amerikaner über ihre Särge breiten. Auch jetzt, im Ministerium, herrscht ein entschieden ziviles Ambiente vor: Alles atmet Transparenz und Offenheit, sogar das Pult des Generalinspekteurs ist aus Plexiglas. Und Kujat beginnt seine kurze Ansprache wie ein Pfarrer, nicht wie ein General: „Manchmal wünscht man sich, woanders zu sein.“

PATRIK SCHWARZ