Schneewittchen ist kein Märchen

Norwegisches Parlament macht Weg für die Erschließung eines Ölfeldes im Barentsmeer frei. Erst mal sollen Öl und Gas vom arktischen Meeresboden gefördert werden. Umweltschützer erinnern an die „Exxon Valdez“ und warnen vor der Katastrophe

aus Oslo REINHARD WOLFF

„Snöhvit“. Einen weniger passenden Namen hätte man kaum finden können: Schneewittchen. Denn dieses Industrieprojekt ist weder ein Märchen noch schneeweiß, sondern das bislang riskanteste Energievorhaben in arktischen Gewässern.

Das norwegische Parlament gab gestern grünes Licht für die Erschließung des „Snöhvit“-Feldes. Es liegt 140 km nordwestlich von Hammerfest inmitten eines wichtigen Fortpflanzungsgebietes für Seevögel und Fische – vor allem den für den Fischfang bedeutenden nordatlantischen Dorsch. Zwar wurden die im Barentsmeer liegenden riesigen Öl- und Gasvorkommen schon zu Beginn der 80er-Jahre entdeckt, aus Furcht vor Umweltschäden bislang aber nicht erschlossen.

Derzeit wird in den arktischen Regionen Alaskas und Sibiriens Erdöl ausschließlich zu Lande gefördert. Eine Havarie ist daher noch relativ beherrschbar. Mit „Schneewittchen“ soll nun die Gewinnung von Erdgas und Erdöl vom Meeresboden erfolgen. Was bei Umweltschützern die Bilder der „Exxon Valdez“-Katastrophe reaktiviert – einer Ölkatastrophe in arktischen Gewässern.

In einem ersten Schritt soll lediglich das Erdgas gefördert und in unterseeischen Rohrleitungen zu einer Landstation auf der „Melköya“ („Milchinsel“) vor Hammerfest geleitet werden. An einer meeroffenen Stelle der kleinen, bergigen Insel wird ein Teilstück flachgesprengt, um dort eine Gasverflüssigungsanlage zu errichten, in der Erdgas zum so genannten Liquefied Natural Gas gekühlt wird. Unter minus 162 Grad Celsius nämlich wird Erdgas flüssig und kann so per Spezialtanks an Abnehmer in aller Welt verschifft werden. Erste Verträge mit den USA und Spanien sind bereits geschlossen. Die Snöhvit-Kosten werden mit 7,7 Milliarden Euro angegeben. Baubeginn soll noch in diesem Sommer sein.

UmweltschützerInnen weisen auf die aus der Ölförderung in der Nordsee bekannte Verunreinigung des Meeres durch Chemikalien und Schwermetalle schon bei „normalem“ Betrieb hin. Auch wenn man zunächst nur das Gas aus dem Ölfeld gewinnen wolle, könne ein plötzlicher gewaltsamer Ölaustritt nicht mit Sicherheit verhindert werden. Sie verurteilen das Projekt aber nicht nur wegen der von Förderung und Transport ausgehenden Gefährdungen. Das gesamte Energiekonzept wird infrage gestellt. Zur Kraftversorgung für die Gasverflüssigungsanlage muss nämlich seinerseits ein gewaltiges Gaskraftwerk errichtet werden, das jährlich fast 900.000 Tonnen Kohlendioxid freisetzen wird. Bei Vollbetrieb der Anlage können aber nur 14 große Gaskraftwerke versorgt werden.

„Schneewittchen“ droht aber auch die Tür zu einer umfassenden Ausbeutung arktischer Ölreserven zu öffnen. Abgesehen davon, dass das im großen Nachbarfeld „Goliat“ lagernde Erdöl als Nächstes an der Reihe sein dürfte, steht man vor allem in Russland in den Startlöchern. Im russischen Teil des Barentsmeers lagern enorme Ölmengen. Der norwegische Startschuss könnte von Russland als Signal verstanden werden, ebenfalls mit der Ausbeutung zu beginnen.

Nicht einmal volkswirtschaftlich erscheint das „Snöhvit“-Projekt sinnvoll. Mehr Geld aus Ölförderung braucht nämlich Norwegen derzeit gar nicht. Die Gewinne wandern in einen 1990 von der Regierung beschlossen „Ölfonds“, der die Rentenzahlung künftiger Generationen garantieren soll. Die norwegische Nationalbank bezifferte am Mittwoch den Inhalt dieses „Sparstrumpfes“ auf 79,6 Millarden Euro. Totes Kapital, wie die rechtspopulistische Fortschrittspartei kritisiert, die es lieber in die Verbesserung des knirschenden Sozialsystems stecken will.

Noch in diesem Jahr wird der Ölfonds die 100-Milliarden-Euro-Grenze überschreiten, um bis 2007 mit 200 Milliarden Euro so groß zu sein wie das Bruttonationalprodukt des Landes. Und das auch gänzlich ohne „Schneewittchens“ russisches Roulette.