Nichts als Wohlbefinden

Toscana in schönstem Grün – der Mugello: Stammsitz der Medici, Heimat edler Küche, Keimzelle der Schülerschule und Eldorado der Rennfahrer. Ein Streifzug durch die Melancholie des Schönen

Die „unrasierte“ Toskana: Wem sie ihre Gunst erweist, der kann glücklich sein

von JOHANNES WINTER

Südliche Abenddämmerung: Eulen, die locken. Hunde, die fern kläffen. Fürs Gemüt die Strahlen der letzten Sonne. Dem Gaumen eine Scheibe Fenchelsalami. Hinterm Hügel aber jault es und röhrt, Gestank von Motoren und Reifen weht herüber.

Ein Landhaus, wie es im Mugello steht. Unter der Terrasse das Paradies. Doch es wäre keins, würde es nicht auch die Hölle bergen: Jenseits des Waldes, im Autodromo Internazionale del Mugello, einem Mekka der Formel-1-Piloten, rasen die eisernen Abkömmlinge des italienischen Gottes Ferrari im Kreis. Bis sie schlafen gehen. Darauf einen Chianti. Just dem Weindorado gegenüber, auf der anderen Seite von Florenz, eine halbe Stunde nach Norden liegt der Mugello. Grüne Lunge, Hinterland oder auch Vorgarten der Stadt, Arkadien der Florentiner, Stammland der Medici, vom hoch ragenden Apennin durchzogen, die „unrasierte“ Toskana. Wem sie ihre Gunst erweist, der kann sich glücklich schätzen.

Für die Familie der Medici war der Mugello ein Muss. Für uns Heutige ist es ihr halbes dutzend Villen, darunter die Sommerresidenz Cafaggiolo, eine zinnengekrönte Renaissance-Villa mit Wehrgang und Wachtturm, bewacht von zwei mächtigen Zedern, trutzig, aber auch geheimnisvoll.

Am Torturm prangt das Wappen der Medici, ein adliges Klingelschild. Die sechs roten palle als Symbol des Fürsten- und Bankhauses, der ehemals besten florentiner Adresse. Was bedeuten sie? Vielleicht ein Hinweis auf die „Pillen“, mit denen die „Ärzte“ – so die Übersetzung des Geschlechternamens – ursprünglich Geschäfte machten. Im Park keine Menschenseele, kein Jagdhornklang. Wie in einem miesen Krimi taucht der Gärtner auf. Er kennt die Legende um die roten Kugeln. Ein Riese habe im Mugello gehaust, nicht gerade ein sanfter, denn eines Tages kam es zum Kampf mit einem Medici-Mann namens Averardo. Und wie es sich gehört, schlugen sich die beiden, dass die Fetzen flogen. Sechs Mal traf der Unhold den Schild des Edlen, doch der hielt stand, bis auf ein halbes dutzend Löcher. Heil kam Averardo heraus. Sein Schild aber mutierte zur Trophäe und, kaiserlich geadelt, zum Wappen der Florentiner Familie.

Wenige Kilometer nach Norden – Eichenwälder säumen die Landstraße, links unten glitzert, noch zwischen nackten Ufern, der neu angelegte Bilancino-Stausee: Wir befinden uns in einem Meer von Toten. Moderne Barbarei hat sich hier ausgetobt, im großen Krieg. Am Futa-Pass, in fast tausend Metern Höhe, liegen dreißigtausend Soldaten der Wehrmacht begraben. Es ist der größte deutsche Soldatenfriedhof im Land, wo die Zitronen blüh’n. Wie versteinerte Spiralen ringeln sich unzählige Grabreihen um den trostlosen Berg, bis an den Fuß einer Kapelle, die von seiner Spitze, einem scharfkantigen Betonflügel gleich, in den Himmel ragt.

„Bellissima panorama“, sagt der Parkplatzwächter. Im Preis inbegriffen ein hinreißender Rundblick über die Toskana. Im Vordergrund gebeugte Witwen mit grauhaarigen Söhnen und beklommenen Enkeln, sie sind zu Besuch bei denen, die im letzten Kriegsjahr 44/45 die germanische „Gotenlinie“ gegen Alliierte und Resistenza zu verteidigen hatten, Überbleibsel einer Armee auf dem Rückzug, Reste rachsüchtiger Massakertruppen auf ihrem gnadenlosen Zug durch die Dörfer Mittelitaliens, gegen „Banditen“ und „Flintenweiber“, im Vollzug eines Wehrmachtsbefehls aus Berlin: „Sadistische Fantasien ausleben!“ Der Mugello aber war vertraute Heimat. Die Region mit ihren bewaldeten Bergen und tiefen Tälern bot den Partisanen Schlupfwinkel und Nachschub. An die Helden des Widerstands erinnern Inschriften, nicht Legenden. Wie lautet der stolze Schwur der Resistenza am ehemaligen Rathaus von Borgo San Lorenzo, dem Hauptort, gerichtet an den deutschen Oberbefehlshaber Kesselring? „Du sollst dein Denkmal haben, aber aus den verrußten Steinen der wehrlosen Dörfer, die deine Vernichtung zerriss, nicht aus der Erde der Friedhöfe, auf denen unsere jugendlichen Genossen ruhen, nicht aus dem unbefleckten Schnee der Berge, die dich zwei Jahre lang herausforderten, nicht aus dem Frühling dieser Täler, der dich fliehen sah, sondern aus dem Schweigen der Gefolterten, das härter als jeder Mühlstein war, aus dem felsenfesten Schwur freier Menschen, die entschlossen sind, mit Würde und nicht aus Hass die Schande und den Terror der Welt zu vertreiben.“ Die Tafel gehört zum Inventar der Piazza, der guten Stube fast jeden Ortes im Mugello, ob Borgo oder Barberino, Bibbiana oder Bordignano. Der Text ist der Stoff, aus dem der Mythos Resistenza geformt wurde. Tote Landser haben ihre Mahnmale, Partisanen leben in marmornen Statuen weiter.

Doch genug der Toten! Und hinauf ins Gebirge. Wir wollen eine gepflegte Runde durch den Apennin drehen, seine Zypressen- und Pinienhaine, seine Akazienalleen und Kastanienwälder. Verborgene kulinarische Schätze sind zu heben. Die „Casa di Caccia“ steht unter Eichen. Wer unverdrossen der kleinen Straße aus dem Tal des Sieve folgt, die von Vespignano aus bergan führt, dem wird die Einkehr bei Signora Mirella unvergesslich bleiben. In der ehemaligen Jagdhütte führt sie Regie über die Speisekarte. Heute Ravioli in Trüffelsoße, anschließend Tagliata unter einer Steinpilzhaube, einheimische Spezereien, das Menü diesmal ohne den legendären Spießbraten, den arrosto girato, auch auf Hase und Schnepfe verzichten wir.

Am Kamin, dezent im Hinterzimmer, entdecken wir zwischen schwarzweißen Bildern vollbärtiger Flintenmänner eine Fotoecke. Mit seinen Kumpanen – gemeinsames Kennzeichen: rote Baseballkappe – schmaust da ein gewisser Michael Schumacher, zu Gast im Jagdhaus, nach getaner Raserei im nahen Autodromo. Die Signora fühlt sich nicht unbedingt geehrt, wenn die Formel-1-Clique der PS-Fetischisten einläuft. Aber was soll’s, ihre Casa ist eben das beste Restaurant weit und breit.

Von hier könnte ein Ritt – mit einer Pferdestärke – durch die Benedetto-Berge, tausend Meter hoch, nach San Godenzo führen, ein Gebirgsdorf an der Grenze zwischen der Emilia Romagna und der Toskana, unmittelbar vor dem Muraglione-Pass. Sein Name verdankt sich einer veritablen Mauer. Wuchtig zieht sie sich mitten über den Scheitelpunkt der Passstraße, aufgetürmt wie für die Ewigkeit. Das Bollwerk stammt aus den Zeiten, als man mit der Postkutsche reiste. Errichten ließ es ein Spross des Hauses Habsburg, gleich neben der Zollstelle.

Théophile Gautier, der französische Reiseschriftsteller, spürte den Nutzen des fürsorglichen Bauwerks zähneklappernd am eigenen Leib und hatte allen Grund, dem Erbauer, einem gewissen Großherzog Leopold, für seine Wohltat Dank zu sagen: „Der Wind bläst mit solcher Gewalt über die kahlen Berge, mal vom Mittelmeer, mal von der Adria, daß der Großherzog am höchsten Punkt der Straße eine Steinmauer errichten ließ, um die Reisenden vor den eisigen Böen zu schützen, die sie vor Kälte erstarren lassen und zu Boden drücken.“ Sie ist also keine Vorläuferin der germanischen „Gotenlinie“, die Mauer am Osteingang zum Mugello. Sie verdankt sich vielmehr feudalem Größenwahn. Heutige motorisierte Reisende aber sollten es sich gesagt sein lassen: Vorsicht bei Nebel und Regen! Denn nicht nur Sturmgebraus, sondern vor allem Wasser gibt es hier oben in Hülle und Fülle.

Unter der Terrasse das Paradies. Doch es wäre keins, würde es nicht die Hölle bergen

In einem Weiler bei S. Godenzo, mitten im Kastanienland, wartet Lorenza Biagio in ihrer Trattoria. Auf einem Betttuch über der Türe heißt uns die bottega dei gaudenti willkommen. Ein Kneipenschild als Einladung an alle fröhlichen Zecher. Maronensaison ist zwar nicht, die herbstliche „Sagra“, das Fest aller Feste zu ihren Ehren fern. Aber Pasta nach Maronenart, seien es Gnocchi oder Tagliatelle, goldgelb gebrutzelt, gibt die Küche das ganze Jahr über her. Hauptgang: Kaninchen mit Oliven, aus dem Backofen. Als Vorspeise eine heimische Delikatesse, lardo di colonato, Speck in ausgelassenem Schweineschmalz, gewürzt mit Rosmarin und Knoblauch, auch wegen seiner Cholesterinarmut von der Signora angepriesen und serviert auf frischem Weißbrot. Von alters her wird die Rarität in einem Marmorbehälter aufbewahrt, nicht selten in recycelten Steingefäßen, die einst den Etruskern dienten, als Grabschmuck. Den Magen schließt ein Stück pecorino di fossa, Schafskäse aus dem Leinensack, in dem er monatelang, vergraben in nackter Erde, reifen durfte.

Nichts als Wohlbefinden. Wir verlassen die Berge. Im Tal des Sieve ist das Geburtshaus eines Künstlers zu besichtigen. Es steht auf einem Hügel am Dorfrand von Vespignano: die einsame „Casa di Giotto“. Seit ein Erdbeben die Bauernkate zerstört hat, schmückt der Ort sich und seinen großen Sohn mit einer ländlichen Villa. Doch der schmale Gemeindesäckel lässt nur zu, dass eine Reihe schäbiger Fotos von Reproduktionen des Meisters an wackligen Gestellen baumeln. Vielleicht verführen sie ja dazu, den Originalen einen Besuch abzustatten. Mit Florenz, Padua oder gar Assisi zu konkurrieren, fiele jedenfalls in Vespignano niemandem ein. Das Städtchen Vicchio nebenan ziert sich immerhin mit einem überlebensgroßen Standbild, mitten auf der Piazza und aus Bronze. Hier war der Maler Giotto zu Hause, für wenige Jahre, beinahe spurlos.

Wo aber nichts ist, dort wuchern die Legenden. So ortsfest wie hartnäckig. Eine schlichte Steinbrücke – geadelt mit dem Namen „ponte di artisti“ (Künstlerbrücke) – über einen Bach, der dem Sieve zufließt: Die Szene ist wie gemalt. An dieser Stelle soll der zehnjährige Bauernbube Giotto gesessen haben, mit seinem Stock ein Schaf in den Sand zeichnend, als der Maler Cimabue vorüber kam und in dem Hirtenknaben ohne Umschweife das junge Genie erkannte. Cimabue nahm ihn mit sich: Er hatte seinen berühmtesten Schüler gefunden. Nach Florenz, in die Medicimetropole, war es nur ein Tagesritt mit dem Esel. Giottos Karriere begann.

Wir bleiben am Fluss. Nach einer Zeit stoßen wir auf einen einsamen Weiler. Ohne die beiden Zypressen und den Campanile hätten wir ihn übersehen: Barbiana. Ein Ortsname, der in den Siebzigerjahren Stoff für den Traum von der ganz anderen Schule abgab. „Scuola di Barbiana“, „Schülerschule“ lautete der legendäre Titel eines Taschenbuchs. Gemeint war das italienische Summerhill. „Ohne Klassenbuch, Zensuren oder Prüfungen, für Bauernjungen, Sitzenbleiber und Durchgefallene.“ Wie die Emphase damals, so die Melancholie des Ortes heute: heftig. Einzig eine schwarze, fliegenumschwärmte Kuh erhebt sich, grast ein paar Halme im Schatten des Schulhauses ab, schüttelt das hölzerne Joch im Nacken, reibt sich am leeren Baugerüst vor der Kirche. Die Handwerker halten wohl Siesta oder genießen schon den Feierabend. Ihre Utensilien deuten jedenfalls an, dass der überall sichtbare Verfall gestoppt werden soll. Und der Geist von Don Milani? Der Gründer der Schülerschule liegt auf dem kleinen Friedhof begraben, unter einer weißen Marmorplatte. Ziemlich wehmütige Zettel geben Zeugnis von der Hoffnung, die der Revolutionär Milani bei den Besuchern, ob Schülern oder Lehrern, bis in die jüngste Zeit weckt. Als der strafversetzte Dorfpfarrer 1967 starb, war auch Barbiana tot. Jetzt soll im Schulhaus eine Stube zur Erinnerung eingerichtet werden. Die alten Bänke ruhen unter Spinnweben, verstaubte Hefte und Bücher, die Tafel, das Schwimmbecken im Schulgarten, alles liegt im Dornröschenschlaf. Das soll sich ändern. Irgendwann soll der Minipool wieder seinen Dienst tun. Dann könnte er nach Barbiana wallfahrenden Pädagogen Kühlung geben.