urteil zu stasiakten
: Opferschutz statt Aufklärung

Zwölf Jahre nach dem Fall der Mauer siegt der Westen noch einmal über den Osten. Die Hinterlassenschaft der Stasi wird für Forschung und Aufarbeitung der Vergangenheit gesperrt, indem Historikern und Journalisten der Zugang zu Akten über so genannte Personen der Zeitgeschichte verwehrt wird. Jahrelang wurden von der Berliner Gauck-Berhörde solche Akten großzügig herausgegeben – vornehmlich über Ostdeutsche. Doch mit dem gestrigen Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes gilt: Opferschutz geht vor Aufklärungsinteresse! Opferschutz? Helmut Kohl ein Opfer?

Kommentarvon WOLFGANG GAST

Der Opferschutz sei der „unmissverständlich zum Ausdruck gekommene Wille des Gesetzgebers“, erklärte gestern das Gericht. Es stellt damit die reine Textexegese über die Intention, die der Bundestag mit der Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes im November 1991 verfolgt hatte. Der damalige Wille des Gesetzgebers wird sogar auf den Kopf gestellt.

Vor gut zehn Jahren war es erklärter Wunsch, die papierne Hinterlassenschaft der Stasi zu nutzen, um vier Jahrzehnte der deutsch-deutschen Geschichte aufzuarbeiten. Verhindert werden sollte, dass die Vergangenheit noch einmal so verdrängt wird wie nach dem Ende des Nationalsozialismus. Ganz bewusst wurden deshalb die Persönlichkeitsrechte für „Personen der Zeitgeschichte“ begrenzt – und nichts anderes sind Amtsträger und Politiker wie der Kläger Helmut Kohl.

Seit gestern dürfen Akten zu solchen Personen also nur noch aus den Archiven freigegeben werden, wenn die darin Aufgeführten auch ausdrücklich zustimmen. Abzusehen ist, dass die dankend ablehnen werden. Gegen das Urteil ist eine Revision nicht möglich und deshalb der Schaden für die Stasi-Aufarbeitung immens.

Um die ursprünglichen Intentionen des Stasi-Unterlagen-Gesetzgebers wieder herzustellen, bliebe nur eine Möglichkeit: Ein neues Gesetz müsste die strittigen Passagen des alten eindeutig regeln. Ob sich heute dafür noch einmal eine Mehrheit finden lässt, ist ziemlich fraglich – vor allem nachdem nun auch der Westen und seine Politiker von den Historikern anhand der Stasiakten unter die Lupe genommen werden.

Und so wird Bundestagspräsident Wolfgang Thierse wohl am Ende Recht behalten. Er hatte schon vor der gestrigen Entscheidung befürchtet, dass ein solches Urteil den Anfang vom Ende der Stasi-Aufarbeitung bedeutet. Einige wollten das schon immer.