vorlesungskritik
Nachdenken über den inneren Film
: Die Nahtod-Erfahrung

Am Phänomen der Nahtod-Erfahrung scheiden sich die Geister. Für die einen das Einfallstor in den esoterischen Wahn, für die anderen eine ernst zu nehmende, eben noch nicht restlos geklärte Erfahrung, die von etwas den Alltag Transzendierendem zeugt, vermochte sie es bislang nicht, in der Wissenschaft mehr zu erregen als beiläufig und abschätzig bekundete Aufmerksamkeiten.

Prof. Dr. Hubert Knoblauch möchte in diese Wirrnis Klarheit bringen, das Phänomen trotz seiner Verruchtheit von wissenschaftlicher Seite her angehen, und so tritt er auch auf. Als Theologe ist er bemüht, mögliche Vereinnahmungsversuche der Esoterik durch einen überaus bescheidenen, pragmatischen Wir-müssen-jetzt-ganz-klar-sehen-Gestus zu bannen, auch gegen die Amerikanische Gesellschaft für Nahtod-Erfahrung, deren Guru namens Raymond Moody viel Anerkennung und Aufmerksamkeit für seine parawissenschaftlichen Bücher eingeheimst hat, lassen sich in seiner Rede wohl dosiert und vorsichtig einige Invektiven heraushören.

Was ihn nicht daran hindert, die entscheidenden, von Moody erarbeiteten Merkmale einer Nahtod-Erfahrung an die Wand zu projizieren und Punkt für Punkt abzuhaken, damit eine solide Grundlage für seine Zuhörer geschaffen werde. Da wäre eine durchaus quälerisch empfundene Unbeschreibbarkeit des Erlebten, gekoppelt jedoch mit einem unbesiegbaren Gefühl für Frieden und Ruhe. Da gäbe es immer den gleichen dunklen, tunnelförmigen Gang, durch den sich das formlos gewordene Bewusstsein hindurchbewegte. Die meisten dem Tode Entronnenen berichteten später davon, eine Perspektive außerhalb des Körpers eingenommen und alles aus einem wohlig warmen Abstand betrachtet zu haben – „Out of body experience“ nannte Moody das. In dieser Äußerlichkeitserfahrung würden nicht selten Begegnungen mit so genannten Lichtwesen stattfinden. Und schließlich würden wichtige Teile des Lebens panoramahaft auf einem inneren Film abgespult werden.

Knoblauch, dessen Ausführungen von einem zeitweiligen, paranormalen Knacken in der Akustik und einem heftigen Oszillieren und Verwischen seines Bildes auf der Leinwand unterbrochen werden – die Vorstellung in der Urania ist so gut besucht, dass sie per Video in zwei Sälen stattfinden muss –, klopfte in einer eigenen Studie die von Moody behauptete Universalität der Nahtod-Standarderfahrung ab. Er machte unzählige Interviews im süddeutschen Raum und fand heraus, dass die Universalitätsthese unhaltbar sei: Im Grunde erzählte jeder etwas anderes; nur die Art, das Erlebte in Geschichten zu kleiden, sei allen gemeinsam gewesen.

Dem Redner geht alles selbstverständlich von den Lippen: die Frau, die Wochen nach einem Unfall an der Blutwaschanlage hing, der Mann, der gegen einen Baum fahren wollte, sich anders entschied, umlenkte und trotzdem eine Nahtod-Erfahrung hatte. Der Mär von körpereigenen Endomorphinen, die in lebensbedrohlichen Situationen ausgeschüttet würden und an der Entstehung eines inneren Films wesentlichen, wenn nicht den einzigen Anteil hätten, glaubt er kein Wort. Hier entledige man sich in reduzierender Manier einer Erfahrung, die erst gar nicht in die „kosmologische Zuständigkeit“ von Wissenschaften falle.

Bleibt im Hintergrund als letzte Instanz die Theologie. Bescheiden und nachsichtig geworden hat sie sich irgendwo in einem Geflecht aus anthropologischen, kulturgeschichtlichen und philosophischen Verweisen eingenistet und gibt von dort durch viele Blumen zu verstehen, dass möglicherweise die Nahtod-Erfahrung über eine Vielzahl von Vermittlungsinstanzen etwas mit der christlichen Jenseitsvorstellung zu tun haben könnte. Und wer will, kann daran glauben. MATTHIAS ECHTERHAGEN