Chemie stimmt, Umwelt protestiert

Regierung, Gewerkschaften und Chemieindustrie einigen sich auf Strategie für Chemikalienpolitik: Mehr Stoffe testen, aber großzügige Ausnahmen und Vertrauen in die Daten der Unternehmen. Scharfe Kritik von Umweltschützern: Kein Schutz vor Gift

aus Berlin BERNHARD PÖTTER

Nach monatelangem Tauziehen hat die Bundesregierung nun ihre Strategie für eine neue europäische Chemiepolitik formuliert. Auf der Grundlage eines Weißbuchs der EU-Kommission sollen demnach zum ersten Mal chemische Stoffe einem Zulassungsverfahren unterworfen werden. Darauf haben sich die Bundesregierung, der Verband der Chemischen Industrie (VCI) und die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) am Montag bei einer Sitzung im Bundeskanzleramt geeinigt. Die Verhandlungen waren von heftigem Druck der Chemieindustrie begleitet. Greenpeace kritisierte den Kompromiss, weil die Regierung in Brüssel „für den Schutz von Produzenten gefährlicher Stoffe und gegen den Schutz von Verbrauchern und Umwelt“ interveniere.

Das gemeinsame Positionspapier, das der taz vorliegt, nennt das EU-Weißbuch vom Februar 2001 eine „insgesamt tragfähige Grundlage“, fordert aber „Verbesserungen“. So sollen über die nächsten Jahre etwa 1.000 chemische Stoffe, die Krebs erregen können und Störungen im Hormonhaushalt oder im Erbgut (CMR-Stoffe) hervorrufen können, einem „Autorisierungsverfahren“ unterworfen werden. Das Gleiche soll für organische Dauergifte (POP) gelten. Das fordert auch die EU: Die Industrie solle deshalb die etwa 30.000 Chemikalien testen, von denen pro Jahr mehr als eine Tonne produziert wird.

Anders als die EU-Kommission drängt die Bundesregierung nun aber darauf, auch Stoffe in das Zulassungsverfahren aufzunehmen, die Allergien auslösen, erst bei langer Einwirkung giftig wirken oder die in der Umwelt nicht abgebaut werden und sich ansammeln. Die Zulassung der Stoffe solle „grundsätzlich unbefristet“ erteilt werden, alle 15 Jahre sollen die Unternehmen aber die Unbedenklichkeit der Stoffe belegen. In einem zentralen „Produktregister“ sollen Informationen über die chemischen Stoffe öffentlich zugänglich sein. Für eine „zentrale und einheitliche Anwendung“ der Regeln soll laut dem Papier eine „zentrale europäische Chemikalienbehörde mit erweiterten Aufgaben aufgebaut werden“.

Eine grundlegende Veränderung der Chemieproduktion wird von Regierung, Gewerkschaft und VCI allerdings abgelehnt. So sei eine flächendeckende Erfassung von Stoffen, deren Jahresproduktion unter einer Tonne liegt, nicht angemessen. Auch eine „vollständige vorherige externe Überprüfung der Industrieinformationen wird abgelehnt“, heißt es. Das Dokument weist einige Forderungen des Europäischen Parlaments (EP) zur Chemiekalienpolitik zurück: So könnten „zeitliche Begrenzungen der Verwendung besonders gefährlicher Stoffe im Verbraucherbereich bzw. bei umweltoffener Verwendung nicht mitgetragen werden“. Auch der Anspruch des EP, die Firmen müssten jedes Jahr eine Liste aller problematischen Stoffe veröffentlichen, „wird nicht für zielführend gehalten“.

Für das Umweltministerium ist die Einigung ein Kompromiss, der die Vorgaben des EU-Weißbuchs „konkretisiert und in einigen Fällen übertrifft“, so gestern Ministeriumssprecher Michael Schroeren. Dem widerspricht Manfred Krautter, Chemieexperte bei Greenpeace: Da die Zulassung nicht auf den Eigenschaften der Stoffe beruhe, sondern auf deren Anwendung, könnten „selbst hochgefährliche Chemikalien weiterhin vermarktet werden“. Die Regelung, nur Stoffe ab einer Produktionsmenge von einer Tonne jährlich zu überprüfen, verhindere, dass „etwa 80 Prozent der neuen Stoffe überhaupt erfasst würden – die Kontrolle neuer gefährlicher Stoffe wird faktisch aufgegeben“. Außerdem müssten die Angaben der Industrie über ihre Produkte unabhängig überpüft werden, moniert Krautter. Gebraucht würde ein „zeitlich definiertes Ziel“, weil sonst die EU-Chemie zahnlos bleibe. Gefährliche Stoffe dürften nicht zugelassen werden, „sozioökonomische Interessen dürfen dieses Schutzziel nicht konterkarieren“.