Der stolze Bettler aus Kabul

Afghanistans Interimsregierungschef Hamid Karsai findet im Westen mehr Zuspruch als zu Hause – doch kaum die Hilfe, die er verzweifelt sucht

aus Berlin SVEN HANSEN

SeineLammfellkappe, den Karakul, trägt er wie eine Krone. Auch sein Chapan, der gestreifte usbekische Umhang, verleiht ihm eine königliche Würde, wie sie in Kabul sonst niemand ausstrahlt. Dort residiert er zudem im Königspalast Gul-Khana im Zentrum der Hauptstadt. Doch während der afghanische Interimsregierungschef Hamid Karsai mit seiner Kleidung weltweit für Aufsehen sorgt und Modetrends befördert, ist er zu Hause nur ein König ohne Land. Nicht einmal Kabul beherrscht er.

Der 44-jährige Politiker lässt sich seine Machtlosigkeit jedoch nicht anmerken. Als er am Mittwochabend neben Bundesaußenminister Joschka Fischer vor die Presse trat, strahlte der Mann trotz der drückenden Probleme seines Landes Souveränität, Gelassenheit und Lebensfreude aus. Demgegenüber schien Fischer alle Sorgen dieser Welt in den tiefen Furchen seines Gesichts zu vereinen.

Geschickt hatten die USA den Paschtunenführer im November bei der Bonner Afghanistan-Konferenz ins Spiel gebracht, als sie ihn als einzigen per Satellitentelefon zu den versammelten Delegierten zuschalteten. Er rief zur Einheit auf und beeindruckte. „Wir sind eine Nation, wir haben eine Kultur“, sagte Karsai. „Wir sind vereint, nicht geteilt.“

Der mit einer Ärztin verheiratete Karsai hat in Indien Politik studiert und zeitweilig in den USA gelebt, wo seine Brüder eine Restaurantkette betreiben. Einst hatte er sich von den Taliban beeindruckt gezeigt, weil sie die Gewalt der davor regierenden Mudschaheddin zu beenden vermochten. Unter denen hatte Karsai 1992 als stellvertretender Außenminister erste Regierungserfahrungen gesammelt. Doch als ihn die Taliban 1996 zum UNO-Botschafter machen wollten, lehnte er ab. Stattdessen formte er im pakistanischen Exil ein Bündnis gegen sie. Während der ersten US-Bombenangriffe im Oktober 2001 kehrte er nach Afghanistan zurück, um in den südlichen Paschtunengebieten einen Aufstand gegen die Taliban zu organisieren. Die Koranschüler behaupteten, nur die US-Luftwaffe habe ihn vor der Gefangennahme gerettet. Karsai bestreitet das.

Als Führer des südafghanischen Popolzai-Clans des Königsgeschlechts der Durranni-Paschtunen entsprach Karsai am ehesten dem Ideal eines integrationsfähigen Führers dieser Ethnie. Zudem hat er kein Blut an den Händen.

In Afghanistan gründete sich sein Ruf bis zu seinem Amtsantritt am 22. Dezember allerdings vor allem auf dasAnsehen seines 1999 im pakistanischen Exil ermordeten Vaters sowie auf den seines Großvaters, eines Expräsidenten der Nationalrats. Im Ausland kommt der exzellentes Englisch sprechende Politiker hervorragend an – ein Schwarm der Frauen, ein Liebling der Medien. Den als zupackend bekannten deutschen Talkmaster Michel Friedman wickelte er beispielsweise vorgestern so ein, dass dieser das Nachhaken völlig vergaß, als Karsai die Frage nach seinen bisherigen Erfolgen schlicht ignorierte.

Karsais Image lässt also nichts zu wünschen übrig, Karsais reale Macht dagegen viel. Sie ist allein deshalb begrenzt, weil die Bonner Afghanistan-Konferenz das Mandat des Übergangspräsidenten auf sechs Monate beschränkt hat. Er darf nicht einmal Minister entlassen. Dafür braucht er eine Zwei-Drittel-Mehrheit seines Kabinetts, das vier Gruppen repräsentiert. Und im Unterschied zu den mächtigen Ministern Junis Kanuni und Mohammed Fahim von der Nordallianz, die Polizei und Militär kontrollieren, kommandiert Karsai keine Gewehre. Ernennungen der beiden Tadschiken segne er einfach ab, werfen ihm Kritiker vor. Das habe dazu geführt, dass heute in der Armee des Vielvölkerstaats von 27 Generälen 26 Tadschiken sind. Nach knapp der Hälfte seiner Amtszeit hat Karsai außer schönen Worten kaum etwas vorzuweisen. Gewiss, nach 23 Jahren Krieg sind die Probleme riesig. Doch die Afghanen werden ungeduldig.

Wichtigste Stütze Karsais ist der Westen. Das darf er natürlich nicht offen zugeben. Doch auffällig ist, dass Karsai bei innenpolitischen Machtproben wie nach dem Mord an Luftverkehrsminister Abdul Rahman Mitte Februar sofort mit der internationalen Friedenstruppe Isaf droht und immer deren Stärkung und Mandatserweiterung fordert. Denn solange Isaf auf Kabul beschränkt ist, kann auch Karsais Macht nicht über die Stadt hinaus reichen.

Außerhalb Kabuls sind die Warlords die wahren Herrscher. Deren Machtbalance halten die USA mit ihren B-52-Bombern mühsam aufrecht. Doch während Iran, Russland und auch die USA zur Zeit schon wieder ihre Lieblingswarlords aufrüsten, bekam Karsai bisher nur schöne Versprechungen zu hören. Auf der Geberkonferenz in Tokio wurden seiner Regierung Hilfen im Umfang von 4,5 Milliarden Euro in Aussicht gestellt. Das ist sehr viel Geld. Die Versprechungen weckten bei der Bevölkerung große Erwartungen. Karsai kann sie bisher kaum erfüllen. Denn das Gros der für dieses Jahr vorgesehenen zwei Milliarden Euro Hilfe dürfte angesichts eines fehlenden Finanzsystems erst nach dem Ende seiner Amtszeit eintreffen. Und ob sein Mandat im Juni von der Loja Dschirga, der großen Stammesversammlung, verlängert wird, ist völlig offen. Denn Karsai hat in Afghanistan keine eigene Machtbasis außerhalb seines Stammes.

Der Westen verweigert seinem Hoffnungsträger aus den unterschiedlichsten Gründen die gewünschten zusätzlichen Friedenstruppen. In Berlin verwies Außenminister Fischer auf den UN-Sicherheitsrat und ließ keine Bereitschaft zur Entsendung größerer Truppenkontingente erkennen. Eine größere Friedenstruppe braucht Karsai, um in Kabul die Macht Kanunis und Fahims zu begrenzen und um seinen eigenen Einfluss in die Regionen der Warlords ausdehnen zu können. Doch nur UNO-Generalsekretär Kofi Annan unterstützt Karsais Ruf nach mehr Friedenstruppen, und der verfügt bekanntlich selbst über keine Soldaten. Die kriegsmüde afghanische Bevölkerung teilt Karsais Forderung.

Offenbar hat Karsai die Hoffnung auf einen Meinungswandel bei den ihn unterstützenden Regierungen noch nicht aufgegeben. Sonst würde er nicht so viel ins Ausland reisen, wo er doch zu Hause so viel zu tun hat. Dort wird er dafür kritisiert. Karsais viele Staatsbesuche stehen in scharfem Kontrast zu den wenigen Visiten, die er bisher den Provinzen seines Landes abstattete (siehe Kasten).

Karsai ist zweifellos einer der besten Politiker, die Afghanistan zur Zeit hat. Doch er muss dringend Erfolge vorweisen – und dazu muss die internationale Gemeinschaft ihre Versprechen erfüllen, sonst verlieren die Afghanen wieder die Hoffnung. Noch überwiegt in Afghanistan nicht Engagement, sondern Abwarten. Denn die Afghanen haben in den letzten Jahren schon viele Führer scheitern sehen und schon viele unerfüllte Versprechen gehört.