Wenn der Autopilot streikt

Hypochonder sind keine Simulanten: Ihr Körperempfinden ist gestört, sie sind krank ohne Befund. Spezielle Therapien können helfen  ■ Von Jochen Becker

Nachts wacht er auf und lauscht in die Dunkelheit. Nichts als sein pochendes Herz ist zu hören. Da – der Herzschlag beschleunigt sich, wird unregelmäßig. Er wälzt sich herum, sein Kopf wird heiß, der Puls will sich einfach nicht beruhigen. Eine nahende Herz-attacke? Schließlich greift er zum Telefon und ruft seinen Hausarzt ...

Der Arzt wird diesen fiktiven Patienten wieder einmal beschwichtigen, vielleicht eine Beruhigungstablette verschreiben. Alle Untersuchungen werden ergeben, dass mit seinem Herzen alles in Ordnung ist, keine organische Schädigung festgestellt werden kann – bis zur nächsten Attacke. Ein frustrierender Kreislauf für den Arzt wie für den Patienten, denn beide haben sie ganz konkret unter dessen Beschwerden und Ängsten zu leiden.

Etwa 10 bis 20 Prozent aller Menschen, die einen Arzt aufsuchen, haben diese Gesundheitsängste, schätzt Prof. Dr. Detlev Nutzinger, Ärztlicher Direktor der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik Bad Bramstedt und Professor für Psychosomatik an der Medizinischen Universität Lübeck. Sie sind krank ohne Befund. Für viele dieser Patienten beginnt ein jahrelanger Marathon durch die Praxen verschiedenster Spezialisten im Kampf gegen ihre wahrgenommene Krankheit. Eine Fixierung auf ihr Leiden, die bis zur Berufsunfähigkeit und zum völligen Rückzug aus einem normalen Leben führen kann.

„Die Medizin ist keine Einbahnstraße nach dem Motto: Hier Symptom, da Krankheit“, erklärt Nutzinger. Gelegentliche Beschwerden wie Brustschmerzen oder Schwindel gehen nicht unbedingt mit strukturellen Schädigungen einher. Zentral sei die Wahrnehmung der Patienten, die solche Körpersignale stärker und anders empfinden als gesunde Menschen. Und auf dieser Ebene müssen sie ernst genommen werden – das Bild vom eingebildeten Kranken ist völlig unangebracht.

„Man kann es mit dem Autopiloten im Flugzeug vergleichen, der im Hintergrund die Systeme überwacht und es dem Piloten ermöglicht, sich auf das wesentliche zu konzentrieren“, führt Nutzinger aus. „Bei Hypochondern ist diese Funktion gestört, ständig dringen Signale des Körpers ins Bewußtsein, die gar nicht unserer bewußten Steuerung unterliegen.“ Die Patienten meinen, Körperfunktionen wie Herzschlag und Atmung überwachen und regeln zu müssen. Jede Unregelmäßigkeit wird sogleich als bedrohliches Signal aufgefasst.

Menschen, die unter Gesundheitsängsten leiden, entwickeln sehr genaue Krankheitsvorstellungen und Erklärungen für ihre Beschwerden. Diese Modelle gilt es in einer Therapie gezielt zu konfrontieren, doch die meisten Ärzte werden in ihrer Ausbildung nur unzureichend auf eine effiziente Hilfestellung vorbereitet, kritisiert Nutzinger. Von den Hausärzten zunächst engagiert begonnene Behandlungsversuche müssen scheitern, wenn nicht auch das sogenannte Rückversicherungsverhalten des Patienten therapiert wird: Immer wieder wird dieser mit neuen oder alten Beschwerden den Arzt aufsuchen, wobei die Abstände kürzer und die Probleme drängender werden. Der Arzt hingegen bekommt das Gefühl, der Patient halte sich nicht an die Absprachen und nütze ihn aus.

„Viele glauben, diesen Patienten sei nicht zu helfen, was völlig unsinnig ist“, sagt Nutzinger. Zentrale Elemente einer Therapie sind die Anerkennung der körperlichen Symptome als existent und die Vermittlung eines alternativen Erklärungsmodells für die beklagten Beschwerden. Systematisch wird der Patient über die Krankheit aufgeklärt, die im Zentrum seiner Ängste steht, ohne ihn vorschnell in die „Psycho-Ecke“ abzuschieben. Er muss wieder lernen, seine Empfindungen richtig einzuschätzen, ein gesundes Vertrauen zum eigenen Körper zu entwickeln. Damit die befürchtete Krankheit durch immer häufigeres Aufsuchen von Ärzten nicht zur fixen Idee wird, werden fortan regelmäßige Arztbesuche geplant, die unabhängig vom Auftreten neuer Symptome sind, und deren Abstände mit der Zeit immer weiter ausgedehnt werden.

„Hypochonder sind meist sehr leistungsorientierte Menschen, die keineswegs faul oder arbeitsscheu sind, wie oft unterstellt wird“, weiß Nutzinger. „Sie überfordern sich, und das wird ihnen zum Verhängnis: Chronische Patienten weisen drei- bis viermal höhere Krankenstände auf, sie sind häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen und erhalten in über 60 Prozent der Fälle schließlich eine Invaliditätsrente.“

Gerade in Zeiten des erhöhten Kostendrucks im Gesundheitswesen liege hier, so Nutzinger, ein erhebliches Einsparpotenzial, wenn diesen Menschen mit einer fachgerechten Diagnostik und Therapie geholfen wird. Und dies könnte durchaus auch ambulant erfolgen: „Es gibt einfache Maßnahmen zur Prävention, die bisher vernachlässigt werden.“