Puls-Maerz-Musik

Beim „Sophisticated Soiree“ bestimmte der Durchschnitt aller Herzschläge des Publikums das Tempo der Musik

Da fühlt man sich doch gleich ganz geborgen. Man wird mit Zuneigung und Wärme empfangen, umsichtig in die Geheimnisse des Abends eingeführt und behutsam verkabelt. Die drei Elektroden, die eine Assistentin an meinem Oberkörper heftet, sollen in den kommenden zwei Stunden meinen Puls zu einem sozialen und musikalischen Ereignis machen. Man dankt, schlendert durch die schicke Lounge, schlürft an seinem Begrüßungscocktail und lehnt sich schließlich in den Polsterkissen zurück. Ich werfe einen kurzen Blick auf die blinkende Leuchtdiode, die vor meinem Bauch hängt und meinen Herzschlag anzeigt – siehe da, man lebt.

Natürlich gleicht man die Blinkfrequenzen der anderen vorsichtig ab, vermeint, die Sportler von den Rauchern unterscheiden zu können. Interessant: Mädchen signalisieren Gelassenheit, Jungs neigen eher zum Hibbeligen. Der Raum ist von glücklicher Erwartung erfüllt, die sich in Blicken auf die Dioden kanalisiert. Endlich beginnt Musik. Eine Band spielt eleganten Avantjazz mit charmantem Fauchen und gemütlichem Knistern im musikalischen Kamin dieser „Sophisticated Soiree“. Hatte man eingangs gelernt, dass der Durchschnitt aller Herzschläge das Tempo der Musik bestimme, so beginnt man jetzt zu zweifeln. Die Musiker simulieren zunächst einige kollektive Herzstillstände, aber erst zum Ende des kurzen Sets wird das angekündigte Konzept einer dem gemeinschaftlichen Biorhythmus folgenden Musik eingelöst.

Die Idee stammt aus einem Science-Fiction-Roman von Neil Stephenson. Im Roman wird der Saal von einer sich nach und nach synchronisierenden Tanzmusik durchflutet. Hier aber weht einem eine eher monströse, laut flatternde, ein wenig klaustrophobe Elektrogeräuschcollage entgegen. Einige Teilnehmer geben auf; es werden offenbar nicht alle Erwartungen erfüllt. Die gemächlich pumpende Geräuschschleife pendelt sich schließlich ein und verströmt aufdringliche Langeweile. Wen wundert’s, wenn der kollektive Puls den schmalen Korridor zwischen 70 und 80 bpm nicht verlässt. Der nahe liegende Wunsch nach Sabotage stellt sich ein: Ich entscheide mich für die bewährte Mischtaktik aus Alkohol und Nikotin. Mit zehn Zigaretten und vier Gläsern Wein müsste das System doch zu sprengen sein. Aber schon das zweite Glas bestätigt eine ernüchternde Rechnung: bei den etwa 40 Mittaktern würde die Steigerung des eigenen Pulsschlages um bedrohliche 80 Schläge pro Minute das Tempo nur um unmerkliche 2 bpm steigern. Also doch machen, was alle machen: sich der Musik hingeben, schläfrig auf die bunte Videoinstallation schauen. Als ich gegen Mitternacht auf die Straße trete, bin ich erschöpft und glaube etwas gelernt zu haben über Kontrolle, Gemeinschaft und Musik. Und darüber, dass nicht jedes Science-Fiction-Szenario zur Gegenwart taugt.

BJÖRN GOTTSTEIN

„Maerz-Musik“, heute, Haus der Berliner Festspiele, Schaperstr. 24. Anmeldung unter www.sophisticatedsoiree.com erforderlich.