Die verratene Stadt

aus San Vicente del Caguán INGO MALCHER

Lastwagen, Busse und Jeeps stehen quer auf der Straße und sind ineinander verkeilt. Viele Fahrzeuge haben platte Vorderreifen, aus einem verbeulten Sattelschlepper tropft Öl auf die Fahrbahn, auf dem Seitenstreifen liegen Patronenhülsen. Die Fahrer suchen Schutz im Schatten der Limonenbäume am Straßenrand. Es ist bereits Nachmittag, aber die Sonne brennt noch immer unerbittlich auf die rote Erde. Schon seit 6 Uhr morgens sperrt die Guerilla der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) die Straße. Ein Guerillero mit schwarzem Piratentuch auf dem Kopf, die Kalaschnikow AK-47 in der Hand, stellt sich auf die Motorhaube eines Jeeps und ruft: „Um sechs Uhr abends lassen wir euch wieder fahren.“

San Vicente del Caguán, drei Wochen nach dem Einmarsch der kolumbianischen Armee. Zwei Eliteeinheiten und ein Anti-Guerilla-Bataillon haben die Stadt besetzt. Aber nur bis zur Ortsgrenze. Am 20. Februar hat der kolumbianische Präsident Andrés Pastrana den Friedensprozess zwischen Regierung und Farc für beendet erklärt und dem Militär befohlen, die vor drei Jahren der Farc zugestandene neutrale Zone zu erobern. Doch die Region um San Vicente ist bis heute in der Hand der Guerilla und wird es auch bleiben. Verändert hat sich nur eins. Noch bis vor drei Wochen konnten die Bewohner der Gegend in Frieden leben. Jetzt ist der Krieg zurückgekehrt nach San Vicente.

Ganz leise ist aus der Ferne das Rattern der Rotorblätter eines Hubschraubers zu hören. Guerilleros und Geiseln blicken gebannt zum Himmel. Das Geräusch kommt langsam näher. Dann tauchen ein, zwei, drei Black-Hawk-Hubschrauber der kolumbianischen Armee auf. In Sekundenschnelle greift eine Spezialeinheit an. Maschinengewehre rattern. Die Geiseln gehen unter den Autos in Deckung. Die Guerilleros stürzen sich in den Straßengraben. Schimpfwörter werden gebrüllt. „Banditen!“, „Hurensöhne!“, „Schweine!“ Nach bangen dreißig Minuten nur ist es vorbei. Die Guerilleros sind geflüchtet. Die Armee hat die Straße zurückerobert. Noch nie war die Guerilla so nah gekommen. Bis zur zentralen Plaza in San Vicente sind es nur sechs Kilometer – eine klare Nachricht für die Armee: Hier ist noch immer Farclandia.

Für Oswaldo Rodriguez hat sich das Leben nach dem 20. Februar radikal verändert. Er misstraut jedem, ist verunsichert, versteckt sich. Die Polizisten, die sich mit dunkelgrünen Uniformen und geschulterten Schnellfeuergewehren hinter Sandsäcken an der Ecke des Rathauses verschanzt haben, die Soldaten, die in Tarnuniformen mit Handgranaten am Gürtel durch die Stadt patrouillieren oder die Campesinos, die mit Strohhüten auf Motocrossmaschinen in die Stadt fahren. Jeder könnte ihm gefährlich werden. Rodriguez sitzt auf einer Bank an der zentralen Plaza. Er flüstert, statt zu reden. Niemand soll auch nur eine Silbe mithören von dem, was ihn seit drei Wochen plagt.

Der junge Mann hat ein kantiges Gesicht und einen krummen Haarschnitt, der aussieht, als hätte er ihn sich, ohne in den Spiegel zu sehen, selbst verpasst. Seine Augen sind jung und neugierig. Er trägt Jeans und ein kariertes Hemd, seine schwarzen Schuhe sind frisch geputzt, sie glänzen in der Mittagssonne.

Der 28-Jährige war Mitglied der unbewaffneten Bürgerpolizei von San Vicente, einer Einheit, die aufgebaut wurde, als Militär und Polizei die Region verließen. Regierung und Farc vereinbarten, dass jede Seite dreißig Polizisten ernennt. Oswaldo Rodriguez wurde vom Bürgermeister ernannt und kontrollierte drei Jahre lang in Eintracht mit Guerilleros den Verkehr, schlichtete Familienstreitereien und jagte Ladendiebe. „Ich nahm den Friedensdiaolg sehr ernst und dachte, ich werde Teil der Geschichte werden mit meiner Arbeit“, sagt er.

Als Präsident Andrés Pastrana den Friedensprozess beendete, löste er auch die Bürgerpolizei auf. Punkt Mitternacht an jenem 20. Februar war der Dienst für Oswaldo Rodriguez und seine Kollegen für immer zu Ende. Was dann aus ihm werden würde, war sein Problem. „Wir sind von allen verraten worden“, sagt er. Polizei, Militär und Paramilitär halten ihn nun für einen Guerillero.

Auf vielen Dächern in der Stadt wehen weiße Fahnen. Oswaldo Rodriguez ist nicht der Einzige in San Vicente, der sich fürchtet. Der Lebensmittelhändler, der den Guerilleros wöchentlich einen Sack Reis verkauft hat, der Mechaniker, der ihre Autos repariert hat, der Bäcker, der ihnen Brot verkauft hat, sie alle fürchten sich vor Vergeltungsaktionen des Paramilitärs oder leben in der Angst, von der Armee für Guerilleros gehalten zu werden.

Und dann ist da noch Nestor León Martinez, der Bürgermeister von San Vicente. Er sah die Farc flüchten und das Militär in die Stadt einmarschieren. Er steht zwischen den Fronten. Wie fast alle in San Vicente. „Als die neutrale Zone in unserer Gemeinde eingeführt wurde, da wurden wir nicht gefragt, und als der Friedensprozess abgebrochen wurde und die Armee wieder einmarschierte, wurden wir wieder nicht gefragt; all das waren Entscheidungen des Präsidenten. Aber uns wurde die Last für die Politik aufgebürdet“, sagt er.

Auf den ersten Blick wirkt alles normal. Frauen gehen elegant gekleidet und mit Stöckelschuhen über die ungeteerten Seitenstraßen. Eine Bäuerin verkauft an einem Stand Wassermelonen, ein Metzger hackt mit einer Axt Rinderrippen auf einem Holzklotz klein, vor einem Haus sitzt ein roter Ara auf einem Baum. Nichts Ungewöhnliches also in einer 22.000-Einwohner-Stadt im kolumbianischen Urwald. Aber vor der Stadt ist alles anders. An den Bäumen entlang der Straße hängen noch die handgemalten Schilder mit der Aufschrift „FARC – Heer des Volkes“. Der ländliche Raum ist noch immer das Terrain der Farc. Selten wagt sich die Armee aus der Stadt heraus. Niemand kennt die Gegend um San Vicente so gut wie die Farc-Guerilleros. Schon seit den 60er-Jahren ist die Guerilla hier präsent. Die Gegend ist schwer zugänglich. Dichter Urwald und Rinderweiden wechseln sich ab. Dazwischen viele Bachläufe, dicht bewachsen, fast undurchdringlich. Entlang dieser Bäche bewegt sich die Farc. Die Bäche bieten Wasser zum Trinken und zum Waschen, unter den dichten Pflanzen können sich die Guerilleros ungesehen bewegen. Die Armee kann die Guerilla in diesem Gelände nicht besiegen.

Die Guerilla greift die Infrastruktur an: Strommasten, Wasserleitungen, Telefonverteiler oder eben Brücken sind Anschlagsziele. Als Folge hatte San Vicente in den vergangenen drei Wochen nur sieben Tage lang Strom. Die Telefonleitungen sind tot. Leitungswasser gibt es nur gelegentlich. Zünder und Sprengstoff eines verhinderten Brückenattentates präsentiert Hauptmann Guillermo Moreno noch am selben Abend auf der Plaza von San Vicente der Presse. Moreno prahlt: „Wir haben einen Anschlag verhindert und einen Banditen gefangen.“ Moreno ist ein Spinner (siehe Foto unten). Er ist kleinwüchsig, aber breitschultrig. Beim Handschlag zur Begrüßung holt er aus, als wollte er zuschlagen. Er guckt grimmig. „Die Banditen sind ausgefuchst, haben ziemlich viel Sprengstoff an der Brücke versteckt, und sie haben ihn gut versteckt“, sagt er.

Er packt seinen Fang am Arm und führt ihn mit Handschellen vor die Kameras, als sei er ein Tier im Zoo. Es blitzt ein Dutzend Mal, der Gefangene kneift die Augen zusammen. Sein Name ist Alvaro Ferla. Als er etwas sagen darf, beteuert er seine Unschuld.

„Ich bin Campesino und kam nur zufällig an der Brücke vorbei“, sagt er. Für das Militär sind alle, die hier leben, verdächtig, Guerilleros zu sein. Militär und Polizei sind die einzigen staatlichen Institutionen, die die Bürger von San Vicente kennen lernen. Es gibt keine Richter und keine Staatsanwälte. Ermitteln und Verhaften ist Sache des Militärs. Kann Ferla nicht beweisen, dass er kein Guerillero ist, drohen ihm zwischen zehn und fünfzehn Jahren Haft wegen terroristischer Aktivitäten. Für Moreno gibt es einen Orden.

Die Antwort der Farc auf die Verhaftungsshow kommt auf die Minute genau 24 Stunden später. Eine laute Explosion erschüttert die Plaza. Mehrere Minuten verdeckt eine dicke Staubwolke die Sicht. Soldaten schwärmen aus. Sie umstellen den Platz. „16, 17, 18, vorwärts!“, brüllt Moreno aus seiner Deckung hinter einem Blumenkübel, das Maschinengewehr im Anschlag. Aber 16, 17 und 18 denken nicht daran, die Plaza zu stürmen. „Verdammt noch mal, vorwärts!“, brüllt der Hauptmann in die dunkle Nacht. In geduckter Haltung rennen die Soldaten über den Platz. In eine Mauer wurde ein kleines Loch gesprengt. Unweit davon liegt der Bügel einer Handgranate. Kein Mensch ist mehr auf der Straße. San Vicente wirkt wie eine Geisterstadt. Vor Minuten noch war hier Festtagsstimmung. Junge Verliebte und Familien mit Kindern flanierten über den Platz, tranken Mangosaft und aßen Spieße vom Grill. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt.

Seit der Explosion und der Festnahme hat Oswaldo Rodriguez ein Problem mehr. In einer heruntergekommenen Bar mit Holztischen und Gartenstühlen liegt eine Zeitung auf dem Tisch. Auf dem Foto erkennt er den Festgenommenen sofort. Ferla war sein Kollege bei der Bürgerpolizei. Immer enger ziehen sich die Kreise um Rodriguez. Er will weg aus San Vicente. Egal wohin. Nur weg. Irgendwohin, wo ihn niemand kennt. Es ist seine einzige Chance. Von ganz vorne anfangen und dann nicht mehr zulassen, dass die Geschichte des Landes sich in das eigene Leben einmischt.

Schon einmal war er vor der Gewalt geflüchtet. Oswaldo Rodriguez wurde in Villanueva Casanare geboren, einer Hochburg paramilitärischer Gruppen. Als einer seiner Freunde von den rechten Milizen ermordet wurde, packte er seine Sachen und kam nach San Vicente. Auf einer Finca fand er Arbeit als Traktorfahrer. Aber die Farc bedrohte den Besitzer, dieser schloss den Betrieb und flüchtete. Rodriguez war arbeitslos und wurde Bürgerpolizist. Jetzt muss er wieder fliehen, weil Militär und Paramilitär hinter ihm her sind. Schon fünf seiner ehemaligen Kollegen wurden auf der Straße von der Polizei verhaftet.

Präsident Pastrana sagt zwar, die Bürgerpolizisten hätten nichts zu befürchten. Aber Pastrana ist weit weg und schuldet Rodriguez noch seinen letzten Lohn. 400.000 kolumbianische Pesos, 150 Euro, sind kein Vermögen. Aber ein Busticket ist damit zu bezahlen. Die Leute in der Stadt meiden Rodriguez. Keiner grüßt ihn, keiner schaut ihn an. Für sie hat er bereits aufgehört zu existieren.

„Wenn wir ehemaligen Bürgerpolizisten wichtig wären, um den Krieg weiterzutreiben, würde man uns helfen“, sagt Oswaldo Rodriguez. Jetzt aber hat die Regierung den Krieg erklärt. Rodriguez schaut auf die Uhr. Es ist 17.30 Uhr. Gleich wird es dunkel. Zeit, zu gehen. Er weiß nicht, was morgen sein wird. Niemand in Kolumbien weiß, was morgen sein wird.