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Lernen mit dem Lückentext

Für alle die nicht mit dem Makel „Analphabet“ leben wollen, gibt es in Kreuzberg Hilfe. In den AOB-Kursen treffen sich Menschen, deren Geschichten kaum unterschiedlicher sein könnten

„Ich wurde immer gehänselt. Das machte mich so aggressiv. Ich will das nicht mehr.“

von THILO KUNZEMANN

Hassan hat darum gebeten. Er möchte seinen Namen in der Zeitung lesen. Kein Kürzel oder Pseudonym, wie es bei solchen Geschichten üblich ist, sondern: Hassan el Hamed, 19 Jahre alt, geboren im Südlibanon, seit sechs Jahren wohnhaft in Berlin, derzeit beschäftigt als Maurerlehrling – und Analphabet.

Und er will, dass seine Geschichte aufgeschrieben wird. Damit jeder versteht, dass er nicht dumm ist oder bescheuert. Für ihn ist es blöd gelaufen. Ähnlich geht es den sieben anderen Schüler, die gemeinsam mit Hassan einen der Alphabetisierungskurse des Kreuzberger Arbeitskreises Orientierung und Bildung (AOB) besuchen. Ihre Probleme gleichen sich – Lesen und Schreiben mangelhaft. Darüber hinaus verbindet sie wenig. Wenn sie auch die gleichen krakeligen Buchstaben an die Tafel schreiben; der Wille, der sie zu diesem verhassten Tun treibt, speist sich aus bemerkenswerten und sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten.

Hassan war schüchtern und unsicher, als er 1995 nach Deutschland kam. Und – „ja“ – auch faul. „Ich bereue das jetzt. Das Schwänzen und Rumhängen. Im Kaufhaus Playstation spielen.“ Wenn er trotzdem in die Schule ging, saß er schweigend auf seinem Stuhl und ließ die Lektionen über sich ergehen. Hausaufgaben und – wenn es klappte auch Diktate – schrieb er ab, „die Lehrer haben das selten bemerkt“. Gute Noten brachte ihm diese Taktik nicht. In der Schule schämte er sich, zu Hause schimpften die Eltern. „Sie waren streng und haben mich zum Lernen gezwungen. Es war nicht gut.“ Helfen konnten sie ihm nicht. Arabisch schreiben und lesen hatte der Junge längst gelernt. Aber geschriebenes Deutsch war auch den Eltern ein Rätsel.

Also wurschtelte Hassan sich durch. Er hatte seine Freunde, es war nicht angenehm. Es ging schon. Er war 17, als ihn zum ersten Mal wirklich störte, dass er nicht lesen konnte. „Meine Freundin hat mir eine SMS geschrieben.“ Die Beziehung ist längst beendet. Das SMS-Mädchen aber weiß bis heute nicht, dass die Antworten nicht von Hassan stammten. „Meine kleine Schwester hat mir vorgelesen und getippt“, sagt er und betrachtet seine großen Hände als wären die Schuld an der Misere.

Als Maurerlehrling muss er nun die Berufsschule besuchen. „Die Fachausdrücke sind noch komplizierter als normales Deutsch.“ Seine Lehrer machten ihm klar: ‚Entweder du lernst jetzt schreiben und lesen oder du schaffst den Abschluss nicht.‘ Eine Sozialarbeiterin empfahl ihm die Kurse der AOB. Und seit einem knappen Jahr sitzt er wieder, zweimal pro Woche für eineinhalb Stunden, vor seinem Heft und kämpft mit Rechtschreibung, Grammatik und heute, ganz speziell, mit den Buchstaben K und G.

„Kh und Gh“, sagt Christina Keischel, die Lehrerin der Gruppe und schreibt einige unvollständige Wörter an die Tafel: _ino, _eben, Bü_el, Wol_en. Kein Problem für die Klasse. Keischel steigert die Schwierigkeit, diktiert: „Zweig“ und wartet eine halbe Minute. Leise murmeln ihre Schüler, wiederholen „Zeweeighh“ und versuchen aus den Lauten die richtige Schreibweise herauszuhören. Martin E. (Name geändert) braucht nur ein paar Sekunden, dann lehnt er sich zurück und wippt auf seinem Stuhl hin und her.

„Der ist immer hippelig und stört“, sagten die Lehrer seiner Dorfschule. „Wenn man da ein leicht zerrüttetes Elternhaus hatte, war man bei den Lehrern von Anfang an unten durch.“

In der ersten und zweiten Klasse sei er noch mitgeschleppt worden. Dann kam eine „wildfremde Frau“ und wollte seine „Lernfähigkeit“ testen. Martin sollte ein Puzzlespiel zusammensetzen. „Ich hörte immer nur die Stoppuhr ticken und war völlig nervös.“ Die folgenden Jahre verbrachte er an der Sonderschule.

Die Schlosserlehre bestand er mit einem Trick, den jeder Analphabet beherrscht. „Ich ließ mir die Bücher vorlesen und lernte sie auswendig.“ Heute arbeitet der 35-Jährige als Koch. „Das funktioniert auch ohne Schreiben und Lesen.“ Als Kind sei ihm die Deutschschwäche peinlich gewesen, doch mit den Jahren komme das Selbstvertrauen. Trotzdem geht er seit fast drei Jahren wieder zur Schule. „Wegen den alltäglichen Kleinigkeiten. Amtliche Briefe beantworten, einen Lebenslauf und eine Bewerbung schreiben.“ Früher musste er dafür Freunde um Hilfe bitten.

Fehlerlos werde Martin auch nach dem Kurs nicht schreiben, sagt Keischel, aber das sei gar nicht das Ziel des Kurses. „Was heißt Lesen und Schreiben können? Das ist zu allgemein. Die Sekräterin benötigt mehr als der Müllkutscher. Wenn die Leute im Alltag zurechtkommen, ist viel geholfen.“ Für Martin ist die Lehrzeit bald vorüber. Länger als drei Jahre sollte kein Schüler bleiben, betont Keischel.

Schon jetzt gibt es eine Warteliste. Wer sich bewirbt, wird zwar von der AOB-Psychologin Ute Jaehn-Niesert zu einem Eingangsgespäch geladen, muss aber noch ein halbes Jahr bis Kursbeginn warten. Ungünstig sei das, sagt Christina Keischel. „Viele Menschen ringen Jahre mit der Entscheidung, zu uns zu kommen. Und wenn sie sich endlich entschlossen haben und motiviert sind, müssen wir sie vertrösten.“

Neun Klassen werden derzeit betreut, für mehr reicht das Budget nicht. Ein Kurs für legasthenische Abiturienten und Akademiker wurde im vergangenen Jahr bereits gestrichen. Dabei sorgten TV-Spots des Bundesverbandes für Alphabetisierung für zusätzliche Interessenten.

Jens kam vor zwei Monaten. Als Achtjähriger wurde er von einer Straßenbahn überrollt. Vier Monate lag er im Koma, nach vier Jahre durfte er das Krankenhaus verlassen. Mit zwölf Jahren wechseln viele Kinder von der Grund- an weiterführende Schulen. Jens Eltern hingegen waren stolz, als ihr Sohn wieder sprechen und laufen konnte.

Verlorene Zeit. Ein Defizit das Jens bis heute begleitet. Er sieht es als Herausforderung. „Ick hab bisher allet jeschafft, was ick wollte, und dafür kämpfe ick och.“ Ein leichter Zungenschlag ist ihm geblieben. Wenn er spricht, scheinen sich manche Laute in seinem Mund zu verkeilen. Mit viel Konzentration bugsiert er sie an den Lippen vorbei. Trotzdem spricht er laut und ohne Scham. Warum auch, der 26-Jährige hat gleich zwei Jobs. Eigentlich ist er gelernter Zierpflanzengärtner, aber „da kriegt man keene Arbeit“. Also arbeitet er tagsüber als Koch und am Wochenende als Barkeeper.

Soweit ist Hassan nicht. Noch hat er keine Ausbildung und keinen Job. „Wenn die Lehre nicht klappt, dann werde ich eben Boxer“, sagte er und muss selbst lachen. Viermal pro Woche trainiert er, aber so richtig mag er nicht an die Sportkarriere glauben. Als Boxer wird er zwar nicht mehr so oft gehänselt, wie früher in der Hauptschule, blöde Kommentare hört er aber immer wieder. „Das macht mich so aggressiv und ich will das nicht mehr. Und der Kurs ist zwar gut, aber ich brauche Hilfe für die Grammatik.“ Er hatte eine Nachhilfelehrerin, doch die zog aus Berlin fort. Jetzt sucht er eine neue. „Ich kann auch etwas bezahlen.“

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