Immer weicht Heimat zurück

Es gibt viele Geheimnisse, und die eigene Mutter ist ihre Königin: In dem Roman „Auf dem Weg nach Messara“ beschreibt Andreas Schäfer eine Rückkehr in das Griechenland der Kindheit. Man könnte Wertvolles in Händen halten, bleibt aber fremd

Da ist viel Einsamkeit in dem Buch: im Auto, am Strand, auf dem Meeresgrund

von MANUEL GOGOS

Telefonate zwischen Berlin und Athen bilden die wichtigste Verbindung zwischen der Mutter und ihrem Sohn. „Hörst du mir zu?“ ist dabei die ewige Frage, mit der sie ihr Schweigen unterbricht. Er hat die Gelegenheit verstreichen lassen, sein Mitgefühl zu zeigen. Denn es gibt eine Neuigkeit: Der griechische Großvater ist gestorben. Die Mutter stellt es dem Sohn frei, in Panajotis’ kleines Haus zu kommen, das noch aus der Türkenzeit stammt. Das heißt: Sie hat ihre Methoden, ihn zu zwingen.

Früher waren sie einander näher gewesen in ihrer Mutter-Kind-Dyade, als er noch blind in ihrem Schatten stand: „Sie rief, ich kam.“ Ihre Zweisamkeit ist vaterlos, und wenn Verhaltensforscher zu Recht lehren, dass man das Spielen vom Vater lernt, fehlt diesem jungen Mann eben die Unbeschwertheit; er ist ernst, als sei er um einen Teil seiner Kindheit gebracht worden. Noch immer führt ihn die Flucht vor der Majestät der Mutter meist in ihre Arme zurück.

Auf dem Weg nach Messara, einer von Tabakfeldern und Obstplantagen umgebenen Kleinstadt im Norden Griechenlands, macht er eine Verwandlung zum Griechen durch, die so unvollkommen bleibt, wie es seine griechischen Sprachkenntnisse sind. In den Straßen Griechenlands überkommt ihn die Nervosität eines Fremden. Nach und nach trifft die ganze Familie im Ort ein, um den „Alten“ zu ehren. Ob der aber so ehrwürdig ist, wird mit jedem Gespräch, das Marko führt, fraglicher.

Die Mutter findet: „Großvater ist ein schöner Mann“, und in den Augen ihres Sohnes kann sie aussehen „wie ein Mädchen“. Zwischen dem Großvater und ihr, der Mutter und dem Sohn scheinen Bande unterschwelliger erotischer Anziehung zu bestehen. Marko fühlt sich, wann immer er in die Nähe einer dieser Geschichten kommt, als könnte er bald etwas sehr Wertvolles in Händen halten, als könnte er sich seiner Anbindung vergewissern. Aber die „Königin der Geheimnisse“, seine Mutter, bleibt eine Fremde, es kommt ihm nicht zu, sie zu erkennen, ebenso wenig wie ihm erlaubt wird, sich das Rätsel seiner eigenen Existenz zusammenzureimen.

Andreas Schäfers Roman lebt von seiner atmosphärischen Dichte. Er hat den Mut, über Andeutungen hinaus nicht viele Worte zu machen. „Meistens kommt der Moment, noch bevor ein Wort gefallen ist.“ Verhaltene Gesten werden kleine Ekstasen, einsilbige Wörter sprechen Bände, und das Schweigen schreit. Sein Zeichenvorrat für Griechenland ist nicht exotisch, bleibt in allem Befremden intim. Da sind Rückblenden, die die Kinderzeit vergegenwärtigen, Stimmungen wie die der Mittagsruhe: das Sonnenlicht, wie es durch die Lamellen fällt, die unterdrückte Lebenslust der Kinder, die die Siesta strikt einhalten müssen, und die Fliegenklatsche, mit der sich die Alten während dieser Zeit bewaffnen. Ein ausgetrocknetes Flussbett im Juli. Der Zeh, der Mittelscheitel seiner Kinderliebe Evi, die heute verheiratet ist und selbst ein kleines Mädchen hat. Da ist viel Einsamkeit in dem Buch: im Auto, am Strand, auf dem Meeresgrund.

Etwas scheint dem Protagonisten zu fehlen zwischen der griechischen Muttersprache, der Sprache des Großvaters einerseits, und der Kindheit, der er schon als Kind auswich, und dem deutschen Vaterland, in dem sich zu Hause zu fühlen Marko, der an seinen Vater keine Erinnerungen hat, schwer fällt. Ebensowenig aber kommt er zu Hause an, wenn er zum Griechenlandfahrer wird, immer weicht „Heimat“ vor ihm zurück.

Unter den Vertretern einer griechischstämmigen Literatur in Deutschland gehört Andreas Schäfer, Jahrgang 1969, bereits zur dritten Generation, die hier geboren und aufgewachsen ist. Das, was man früher Gastarbeiterliteratur nannte und dessen Voraussetzung laut Heiner Müller der „Erfahrungsdruck“ der modernen Söldner war, hat eine Wandlung durchgemacht. Die Identitätssuche steht nicht mehr im Vordergrund, autobiografische Betroffenheitsprosa weicht allgemeiner literarischer Ambition, die sich der jungen deutschen Literatur einschreibt. Alltagssorgen sind längst zur Formsache durchgearbeitet worden, Sprachschwierigkeiten stellen kein Problem der Verständigung mehr dar, sie deuten auf die Krise der Sagbarkeit überhaupt.

Schäfers Roman haften letzte Spuren eines elliptischen Bewusstseins von Hier- und Dortsein an, aber seine sprachlichen Kontrastmittel bilden sich nichts ein. Insgesamt prägen Unaufdringlichkeit, Inständigkeit, Feinabstimmung den literarischen Stil des Debütanten, bei dem sich der Leser von der ersten Seite an in guten Händen weiß.

Andreas Schäfer: „Auf dem Weg nach Messara“. Alexander Fest Verlag, Berlin 2002, 187 Seiten, 17,90 €