Die Suche nach dem Minimum

Was müssen wir wirklich wissen? Über die grundlegenden Inhalte eines inhaltlichen Bildungskanons wird erregt debattiert. Dabeit tritt offen zutage, dass es darüber, was zum unverzichtbaren Basiswissen zählt, bislang keinen Commonsense gibt

von TILMAN VON ROHDEN

Die Frage, was Bildung ausmacht und was man wissen muss, ist fast so alt wie die Menschheit. Sokrates zog den radikalen Schluss: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Doch dabei kann es die Bildungspolitik nicht belassen.

Begriffe wie Studierfähigkeit, Metawissen, Vorstellungen von austauschbaren Inhalten und überfachlichen Kompetenzen stehen nach rund dreißig Jahren Hochkonjunktur unter Legitimationsdruck. Dafür tritt jetzt die Debatte um die Inhalte in den Vordergrund – ein Streit um den Bildungskanon, auf dem die Verfechter der Unverbindlichkeit von vornherein auf verlorenem Posten stehen. Es geht nur noch darum, wie offen dieser Kanon sein muss oder darf.

Der ehemalige Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt warf in dieser Zeitung der Schule vor, sie leide unter einer mangelnden Vorbereitung auf die berufliche Wirklichkeit. Er fordert konsequenterweise Wirtschaft als Unterrichtsfach. Dagegen steht das einflussreiche Buch von Dietrich Schwanitz „Alles, was man wissen muss“. Für den emeritierten Anglisten ist das Marschgepäck, das die naturwissenschaftlich geprägte Moderne einfordert, purer Ballast. Naturwissenschaft zählt er zum Kanon nur dann, wenn sie das Weltbild prägen.

Andererseits: Die Pisa-Studie weist nach, dass deutsche Schüler gravierende Schwächen in Mathematik und Lesekompetenz aufweisen. Diese Ergebnisse sind Wasser auf die Mühlen derjenigen, die zur Sicherung der Qualitätsstandards ein Zentralabitur fordern. Auch damit ist die Frage nach einem Bildungskanon verknüpft, denn ohne ihn könnte ein Zentralabitur kaum funktionieren. Dieses haben zwar die neuen Länder, aber nur wenige der alten.

Berlins oberster Schulrat, Hans-Jürgen Pokall, ist Gegner eines Zentralabiturs. Er plädiert stattdessen für „zentralere Vorgaben“. Der Bildungskanon umfasse „Unverzichtbares“ wie Deutsch, Mathematik, Sprachen, historisch-politisches Wissen, Sport, Kunst und Musik. „Erziehung im Heute ist ein Fehler, denn vieles ist zum Zeitpunkt des Erlernens schon veraltet“, so der Landesschulrat. Er plädiert für „Alternativen, aber keine Unverbindlichkeiten“ im Lehrplan. Doch an einem fest umrissenen Bildungskanon vermag er seine Alternativen zur jetzigen Schule nicht festzumachen.

Für den Berliner Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth, Professor an der Humboldt-Universität, bedeutet Bildungskanon „Minimum“ und nicht „Totum“, das Ganze. Diese Auffassung korrespondiert mit der Auffassung der Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Annette Schavan. Es gehe „um die Vermittlung grundlegender Bildungsinhalte, die vor der Spezialisierung liegen und die zugleich das Fundament für lebenslanges Lernen schaffen.“

Die KMK hat – noch vor Pisa – Gutachten über die Fächer Mathematik, Deutsch und Englisch in Auftrag gegeben. Weitere Fächer sollen folgen.

Gemeinsam ist allen Expertisen, dass sie die fachlichen Ansprüche rehabilitieren. Tenorth fordert, gestützt auf diese Gutachten, dass die Inhalte zentral definiert werden, „aber der wesentliche Mechanismus der Umsetzung dezentral bleibt“. Ohne curriculare Normierung komme man offenbar nicht weiter, so Tenorth. Das würde wohl auch Pokall unterschreiben. Im Unterschied zu ihm will Tenorth curriculare Festschreibungen aber als Vehikel für die „zur pädagogischen Arbeit freigesetzten autonomen Schule“ verstanden wissen.

Die KMK-Gutachten leisten tendenziell einer inhaltlichen Kanonisierung des Wissens Vorschub. Tenorth fürchtet diese Tendenz nicht, „weil ohne Form nur Anarchie entsteht“. Gleichzeitig plädiert er für die Individualisierung von Schulen und Bildungsgängen.

Damit zeichnen sich zwei Tendenzen ab. Erstens: Das Zentralabitur wird kommen. Denn die zunehmenden Versuche zur Verständigung über kanonisierungsfähige Inhalte sind als Vorbereitung zur organisatorischen Veränderung des Schulsystems in Richtung zentralisierter Prüfungen zu werten. Zweitens: Die angestrebte Individualisierung lässt sich wohl nur in der weiteren Differenzierung der Schullandschaft organisatorisch umsetzen. Die erste Tendenz setzt die Ergebnisse der Pisa-Studie adäquat um. Die zweite Tendenz schlägt ihr ins Gesicht, denn die organisatorisch stärkere Differenzierung von Bildungsgängen ist ein spezifisch deutsches Phänomen, das sich offensichtlich nicht bewährt hat.