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Bombenlöcher und verrauchte Cafés

Sarajevo, sechs Jahre danach: Kriegsschäden bestimmen noch immer das Stadtbild, die Jugend rettet sich in den Dunst der Cafés. Auf den Straßen fahren neue M.A.N.-Busse, finanziert von Japan, neben ausgemusterten Berliner Stadtbussen

Aus allen verfügbaren Lautsprechern plärrt bosnische Schlagermusik

von MELANIE WIELAND

Die Wasser der Miljacka haben schon viel gesehen auf ihrem Weg durch die Höhen und Tiefen von Bosnien und Herzegowina. Römer und Osmanen, Monarchisten und Kommunisten. In den letzten Jahren haben sie viele Soldaten gesehen und schweres Kriegsgerät, und immer hat die Miljacka ihre Brücken hingehalten für all das, was der Mensch von einem Ufer zum anderen schaffen wollte. In Sarajevo schließlich, der alten Handelsstadt, deren Ruhm einige Jahrhunderte zurückreicht, hat man jeder Brücke einen eigenen Namen gegeben. Manche heißen immer noch so, wie sie einst getauft wurden. Manche aber wurden umbenannt nach dem einen oder anderen Krieg.

In Bosnien und der Herzegowina werden Brücken berühmt, man kann auch sagen: berüchtigt. In Mostar im Zentrum der Herzegowina liegt eine alte Brücke in der Neretva, jenem Fluss, der den kroatischen Westteil der Stadt von der bosnisch-muslimischen Altstadt im Osten trennt. Mehr als 400 Jahren hat die „Türkische Brücke“, die „Stari Most“, die beiden Stadtteile miteinander verbunden, bis sie 1993 von kroatischen Granaten zu einem Haufen Steine zusammengeschossen wurde. Auch über den bosnisch-serbischen Grenzfluss Drina spannen sich Brücken, und auch in diesem Fluss liegen die Ruinen jener, die Krieg und Nationalismus zum Opfer gefallen sind. Doch eine Brücke wird ewig fortbestehen, weil ihr der Literaturnobelpreisträger von 1961, Ivo Andriç, mit seinem Buch „Die Brücke über die Drina“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Und dann ist da noch eine berühmte Brücke in Sarajevo, die, ohne es zu wollen, am Ausbruch des Ersten Weltkriegs beteiligt war. Denn hier stand am 28. Juni 1914 der 19-jährige Serbe Gavrilo Princip, als er zwei tödliche Schüsse abfeuerte auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen schwangere Frau Sophia. Zwei Schüsse mit großem Nachhall.

Mit Gavrilo Princip ging Sarajevo in die Geschichtsbücher ein, und mit der Stadt die Brücke, die damals noch „Lateinische“ hieß. Als der Krieg zu Ende war, schüttelte das Balkanland die österreichisch-ungarische Okkupation ab und ehrte mit dem Namen seiner berühmtesten Brücke den Attentäter. „Principov Most“, „Princips Brücke“, hieß der Übergang über die Miljacka nun, sieben Jahrzehnte lang. Heute trägt sie wieder ihren alten Namen: „Lateinische Brücke“.

Und immer noch fließen die Wasser der Miljacka durch Sarajevo und sehen alles, was die Stadt zu bieten hat, und vieles, vor dem man die Augen verschließen möchte. Auf dem Weg vom Flughafen fährt man an zerschossenen Ruinen ganzer Stadtviertel vorbei. Der Wind fegt durch die Löcher in den Hauswänden und fährt in die Höhlen der Plattenbauten, denen ganze Stockwerke fehlen. Granaten haben sie herausgeschlagen, haben riesige Löcher gebissen in diese Bettenburgen, so dass man auf der anderen Seite wieder hinausschauen kann. Drum herum wohnen Menschen, die ihre Wäsche auf Balkone hängen bei Wind und Wetter, solange sie noch Balkone haben.

Man fährt vorbei an der Ruine des früheren bosnischen Parlamentsgebäudes, auch dies eine Platte, zwanzig Stockwerke hoch. Sie alle sind ausgebrannt, nicht eine Fensterscheibe gibt es mehr, schwarze Löcher, wohin man auch schaut. Hier tagt kein Parlament mehr, wird es nie wieder tun. Auf der anderen Seite, gegenüber, steht das Holiday Inn mit seiner nicht minder hässlichen gelbbraunen Fassade. Die allerdings ist unbeschädigt. Über dem Eingang erkennt man noch die Schatten der fünf olympischen Ringe und des Symbols der Winterspiele 1984, für die das Hotel errichtet wurde. Das Symbol ist ebenso im Gedächtnis geblieben wie Vucko, der kleine Wolf, der das offizielle Maskottchen dieser Spiele war. Mit einem roten Schal um den pelzigen Hals und geschulterten Skiern sang die Zeichentrickfigur auf den Bildschirmen der Welt in unvergessener Manier den Namen der Stadt: Sarajevo.

Doch der Geist der friedlichen Spiele zog fort aus der Stadt. Ein knappes Jahrzehnt später lag die winzige Altstadt mir ihren verwinkelten, niedlichen Gassen in Trümmern; Brücken, Häuser, Kirchen, Moscheen – alles zerstört. Inzwischen, sechs Jahre später, sind die Häuschen wieder aufgebaut, in fast jedes zweite ist ein Laden mit Kunsthandwerk gezogen. An ihnen vorbei drängeln sich, wenn es dunkel wird, die Jugendlichen. Brechend voll ist das Zentrum schon an gewöhnlichen Abenden; am Wochenende dann kann einen Platzangst befallen, so gedrängt flanieren Gruppen, ganze Horden, an den Auslagen der Altstadt vorbei. Sie sind auf den Weg in die unzähligen Cafés von Sarajevo. Zwischen 15 und 25 sind sie, westlich gekleidet, die Mädchen stark geschminkt und nur selten mit Kopftüchern bedeckt. Nahezu jeder raucht, die Luft in den meisten Cafés ist schneidend, aus allen verfügbaren Lautsprechern plärrt in hoher Lautstärke bosnische Schlagermusik – zum Frühstück, zum Mittagessen, am Abend.

Wer in Ruhe essen will, ist falsch in diesem Land, in dem der elektronische Gesang der Muezzin, der über die Dächer der Stadt weht, fast schon erholend wirkt. An diesen Dächern erkennt man heute, was alt und was neu ist in der Stadt. Die kräftig roten, neuen Ziegel überwiegen bei weitem die ausgebleichten alten Steine.

Als die meisten Dächer noch dieselbe Farbe hatten, schaute 1984 die Wintersport treibende Jugend der Welt von den Bergen auf Sarajevo, verzaubert, wie immer wieder beteuert wird, vom freundschaftlichen Geist der XIV. Olympischen Winterspiele. Und von der Stadt.

Damals allerdings trugen die Fassaden noch nicht die Narben von Bürgerkrieg und Belagerung. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Mauern überzogen von den Einschüssen der Maschinengewehrsalven. Einige Wände sind neu verputzt, bei vielen sind nur die Löcher gestopft. Sanierte Häuser jedoch sind selten, auch jetzt, sechs Jahre nach dem Krieg.

Wenn sich der Smog aus Hausbrand und Autoabgasen verzogen hat, der an vielen Wintertagen wie eine Käseglocke das Tal versiegelt, die Sicht vernebelt und das Atmen zur Qual macht, dann sieht man von den Hügeln aus auch die dritte Schicht der Stadt: die grauen Türme der Plattenbauten, die Architektur der sozialistischen Moderne. Vielleicht starren sie nur deshalb kalt und grau in den Novemberhimmel, um der Süße des Anblicks eine regulierende Schärfe zu verleihen, einen Gegenpol zu setzen zur Geschichte und zur Pracht einer längst versunkenen Zeit.

Keine Fensterscheibe mehr, schwarze Löcher, wohin man auch schaut

Von den gleichen Bergen haben die Belagerer auf die Dächer geschaut, die bald darauf offene Wunden in einer zerschossenen Stadt waren. Die Türme der zahlreichen Moscheen waren schon in sich zusammengesunken, von der im neomaurischen Stil erbauten Nationalbibliothek standen nur noch die Außenmauern. Das riesige Gebäude, das ehemalige Rathaus, war schon zu Beginn des Bürgerkrieges in Brand gesteckt worden; mit der Innenausstattung verbrannten zwei Millionen Bücher, darunter wertvolle alte Handschriften. Alles unwiderruflich verloren.

Was heute in Sarajevo noch ursprünglich ist, ist selten prächtig und hat eher pragmatischen Wert. Die Straßenbahnen, die die Innenstadt ringförmig umfahren, sind uralt und klapprig. Nicht viel besser sehen die Linienbusse aus: ausgemusterte Fahrzeuge der Berliner Verkehrsbetriebe, Modelle, die noch Falttüren haben, fahren die Strecken ab, mit Sparkassen-Werbung beklebt aus Zeiten, als es in Deutschland noch vierstellige Postleitzahlen gab. Die nagelneuen M.A.N.-Busse, von Japan gesponsert, lassen die Berliner Busse noch ein bisschen hässlicher aussehen.

40.000 Ausländer halten sichhier auf, im Auftrag unzähliger Organisationen, die sich auf die eine oder andere Art an der Stabilisierung und dem Wiederaufbau des Landes beteiligen. Daher kann man in den Buchläden häufig aus einem mehrsprachigen Sortiment wählen, die wichtigsten ausländischen Medien kommen mit einem Tag Verspätung in die Stadt. Nach einem Sarajevo-Reiseführer muss man allerdings intensiver suchen.

Zwei lassen sich schließlich auffinden; nur einer davon, eine dünnes Büchlein von 120 Seiten, die überwiegend aus Werbung bestehen, ist die Investition wert, weil er die eine oder andere nette Geschichte zu den wenigen Sehenswürdigkeiten der Stadt enthält. Für den gleichen Preis kann man auch ein Poster kaufen, eines, das häufig in öffentlichen Gebäuden und Organisationsbüros hängt. Auf diesem sieht man eine niedliche Stadt mit lieblichen Häusern, umgeben von grünen Hügeln. Die Miljacka schlängelt sich hindurch – und erst auf dem zweiten Blick erkennt man, dass oben, auf dem Kamm der Berge, Panzer stehen und Mörsergranaten, Maschinengewehre und sonstigesKriegsgerät.

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