berliner szenen
: Orte des Meckerns

„Dreckloch Berlin“

Fakten sind faszinierend. Laut dem Statistischen Landesamt Berlin gibt es 5.765.528 Medien in den Stadtbibliotheken – für 3.387.232 Berliner Bürger und Bürgerinnen, von denen 291.000 arbeitslos sind. 15.991 Volkshochschulkurse fanden 1999 statt. 77 Schwimmbäder (noch), 149 Museen und 4 Planetarien ergänzen das Kultur- und Freizeitangebot der Stadt. Aber mindestens dreimal pro Woche vermisse ich etwas. Eine Einrichtung wie das Speaker’s Corner im Londoner Hyde Park. Einen Ort, an dem Revolutionäre, Tierschützer und Globalisierungsgegner ihre Meinung ungehindert kundtun können. Eine Meckerecke für die Berliner.

Stattdessen begegnen mir die Nörgler auf der Straße, in Kneipen und besonders häufig in der U-Bahn. Der angenehmste Fall sind schimpfende Ehepaare. Wie die beiden älteren Herrschaften, die im tiefsten Tempelhof auf einem dieser blitzblanken Bahnsteige mit mir auf die Bahn warten. Sie hat sich über das „Dreckloch Berlin“ ausgelassen, während er gutmütig zuhört und sanft beschwichtigt. Schon anstrengender sind die Unzufriedenen mit Hund. Auch Tiere sind geduldige Zuhörer, aber das Gekläffe zur Antwort strapaziert meine Nerven empfindlich. Der GAU nach 10 Stunden Arbeit sind Fälle wie der mit Einkaufstüten beladene Mann, der neulich mit mir die U-Bahn verpasste. Wie einstudiert erzählt er von Ossis, PDS-Wählern, Neues Deutschland-Lesern, Türken in Tempelhof. Auch über meilenweite Gedankensprünge ohne Pausen redend, schreiend, genau in meine Richtung. Egal wohin ich ging.

Für solche Leute wünsche ich mir die Sprecherecke. Sie hätten ihren Platz in der Öffentlichkeit. Jeder könnte kommen, um sie zu hören. Und irgendwann auch wieder gehen. SILKE LODE