Der Januar bleibt im Lebenslauf

Im April tritt Hagen Boßdorf seinen Job als Sportkoordinator der ARD an. Anfang des Jahres schien dieser Karrieresprung noch alles andere als sicher: Der 37-jährige Fernsehmann wurde verdächtigt, in den 80er-Jahren für die Stasi gespitzelt zu haben

„Dieses Schwarz-Weiß-Denken: Wer unterschrieben hat, ist ein Arschloch“

von ALEXANDER KÜHN

Es ist sein erstes Gespräch mit der Presse. Sein erstes seit dem 19. Januar. An jenem Samstag hatte die Bild-Zeitung gemeldet, dass Hagen Boßdorf seit 1988 von der Stasi als Inoffizieller Mitarbeiter in der für Auslandsspionage zuständigen Hauptabteilung Aufklärung (HVA) geführt wurde. IM Florian Werfer, so hieß er auf dem Karteikärtchen.

Ausgerechnet Boßdorf, Vorzeigemann des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg (ORB), designierter ARD-Sportkoordinator. Sicher, dass er seinen Wehrdienst beim Stasi-Wachregiment „Felix Dzierzynski“ abgeleistet hatte, musste er schon vor Jahren zugeben. Aber ein Spitzel? Nein, verteidigte er sich. Der ORB prüfte den Fall – und entschied: Die Vorwürfe sind nicht haltbar, eine Zusammenarbeit ist auch weiter möglich. Eine Akte, die eine Zusammenarbeit mit der Stasi belegt, ist bis heute nicht gefunden. Ebenso wenig die Antwort auf die Frage, warum die Firma ihn als IM geführt hat.

Jeder, der sich auf ein Gespräch mit ihm vorbereitet, jeder, der sich mit „Hagen Boßdorf“ als Suchbegriff durchs Internet googelt – jeder wird jetzt so ziemlich als Erstes die Artikel über die Stasi-Vorwürfe finden. Aus der Welt vom 24. Januar: „Jung, begabt, aus dem Osten und dann doch IM“, oder: „Glauben, Wissen, Hoffnung“ aus dem Tagesspiegel vom 30. Januar und noch viele andere mehr.

„Natürlich sind die Zeitungsartikel über den Verdacht zehnmal so ausführlich wie die über den Freispruch. Das überrascht mich auch nicht“, sagt Hagen Boßdorf an diesem Morgen im Lindencafé in Potsdam-Babelsberg. Einen, der selbst Journalist ist, seit zwölf Jahren im Geschäft, darf das auch nicht überraschen. Aber enttäuschen, enttäuschen darf es ihn, dass ein paar Tage Spitzelverdacht mehr Aufmerksamkeit erregen als zehn Jahre TV-Karriere, mehr als seine Berichte von der Tour de France und seine Nominierungen für Fernsehpreise. Und ärgern darf er sich darüber, „dass die öffentliche Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit in den meisten Fällen noch mit einem Schwarz-Weiß-Denken einhergeht“. Sprich: „Wenn einer bei der Stasi unterschrieben hat, ist er ein Arschloch. Und wenn nicht, dann ist er keines.“

Wehleidig wirkt der 37-Jährige jedoch nicht, wie er da vor seinem Kaffee sitzt, im Strickpulli und mit einem „Urlaub!“ signalisierenden Dreitagebart; vielleicht etwas müde, aber es ist ja erst 10 Uhr morgens. Er sei auch in jenen Januartagen nicht verzweifelt gewesen, sagt er, habe keine schlaflosen Nächte gehabt – „ohne das jetzt runterspielen zu wollen“. Die ARD habe den Fall differenziert und ihn fair behandelt, seine Freunde hätten zu ihm gehalten, auf dem Wochenmarkt sei er von wildfremden Menschen angesprochen worden, die ihm schulterklopfend sagten: „Das ist doch eine Sauerei, was da mit Ihnen gemacht wird!“ Es scheint kaum etwas zu geben, über das Hagen Boßdorf bei seinem ersten Pressegespräch seit jenen Tagen nicht reden will. Auf fast jede Frage folgt eine ausführliche Antwort, so wohl formuliert, als habe er sie schon oft gegeben – oder sich zumindest genau zurecht gelegt. Nur nicht auf die Frage, aus welchem Interesse oder wem zuliebe Bild die IM-Vorwürfe just zu dem Zeitpunkt rausgebracht hat – als er noch ORB-Chefredakteur war, aber bereits designierter ARD-Sportkoordinator. „Da müssen Sie Bild fragen.“

„Natürlich sind die Artikel über den Verdacht zehnmal ausführlicher“

In Leipzig hatte Boßdorf Ende der 80er Journalistik studiert. 1990 fing er an, für die taz zu schreiben, und arbeitete fürs DDR-Jugendradio DT 64, das jedoch bald eingestellt wurde. Boßdorf ging fest zur taz, als Sportredakteur, merkte aber bald, dass er anderes tun wollte, als täglich eine Zeitungsseite zu produzieren. Er kündigte, wollte wieder frei arbeiten für Radiosender und Zeitungen. Dann kam das Angebot, Sportchef vom gerade entstehenden ORB in Potsdam zu werden – sprich: erst einmal eine Sportredaktion aufzubauen. Mit 27 Jahren. Und Fernseherfahrung, die gegen null tendierte. „Aus heutiger Sicht bin ich ziemlich beeindruckt von der Naivität, mit der ich an die Sache rangegangen bin“, sagt er. Doch es war die einzige Möglichkeit: „Wenn ich mir ständig gesagt hätte: Du hast keine Ahnung, wie ein Film geschnitten wird und wie man moderiert – ich wäre gescheitert.“ Ungewöhnlich auch sein nächster Karrieresprung vor einem Jahr: Als Sportjournalist zum Chefredakteur einer ARD-Anstalt gekürt zu werden, hatte bis dato noch niemand geschafft.

Nun also Sportkoordinator. Ein paar vertragliche Feinheiten sind noch zu klären, dann geht es los in München mit der Modernisierung des ARD-Sports. Der von Sat.1-„ran“ auf die hinteren Plätze verwiesene Klassiker „Sportschau“ soll ein neues Outfit bekommen. Die „Sportschau“, sagt er, müsse den Leuten das Gefühl geben, sie verpassen was, wenn sie nicht zugucken. Früher war das mal so. Aber: „Solange Sat.1 die Bundesligarechte hat, werden wir die Quoten von ‚ran‘ nicht erreichen.“ Deshalb müsse man sich überlegen, „ob wir wirklich den fünften Nachbericht von Kaiserslautern gegen Bayern vom Vortag zeigen wollen – oder lieber frische Ware aus anderen Ligen“. Und mehr andere Sportarten, die gesamte olympische Palette eben, dafür weniger Moderatoren wegen des Wiedererkennungswerts, und mindestens eine Moderatorin. Die fehlt, seit Anne Will zu den „Tagesthemen“ gewechselt ist.

Verwirklichen will er diese Pläne im Herbst, wenn die Fußball-WM gelaufen ist. Jetzt muss er erst mal nach München ziehen. Seine Frau und die beiden Kinder kommen im Sommer nach. Die größte Sorge der neunjährigen Tochter ist, dass die Freundinnen, die sie dort hoffentlich findet, auch so sprechen wie die Bayern, die sie neulich im Fernsehen gehört hat. Boßdorf selbst dagegen gibt sich unbekümmert. Angst, in München schief angeguckt zu werden als einer, der vielleicht doch was auf dem Kerbholz hat, habe er nicht: „Die Stasi-Vorwürfe sind innerhalb der ARD erledigt – nicht nur arbeitsrechtlich, sondern auch atmosphärisch.“ Aus seiner Biografie streichen kann Hagen Boßdorf sie jedoch nicht.