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Terror ermöglicht Pragmatismus

In den USA werden als Folge der Anschläge vom 11. September jetzt viele illegale Einwanderer legal geduldet, wenn sie eine „Matricula Consular“ vorweisen. Mit diesem Dokument erhalten sie in den USA Rechte, die ihnen bisher verweigert wurden

aus Washington MICHAEL STRECK

27 Dollar kostet das Ticket für den Weg aus der Illegalität. Hugo Godinez Sosa zählt das Geld, hört seinen Namen über den Lautsprecher in Mexikos Botschaft in Washington und schiebt sich durch das Gedränge. Am Schalter erhält er dann den wohl wertvollsten Gegenstand, den ein illegaler Einwanderer momentan in den USA besitzen kann: einen offiziellen Ausweis. Die so genannte Matricula Consular, eine Karte mit Namen, Foto und dem Hinweis, Staatsbürger Mexikos zu sein, beendet seit wenigen Wochen das Schattendasein vieler Einwanderer in den USA.

Tausende illegaler Immigranten strömten in den vergangenen Monaten zu den mexikanischen Konsulaten, um diesen Ausweis zu bekommen. Immer mehr öffentliche Einrichtungen in den USA wie Schulen, Krankenhäuser und Polizeistationen akzeptieren diese Karte als legales Dokument. Dabei handelt es sich nicht um eine bundesstaatliche Regelung oder um eine Idee der Einwanderungsbehörde. Einzelne Städte haben mit den mexikanischen Vertretungen diese pragmatische Lösung entwickelt. Denn nach dem 11. September hat die nationale Sicherheit in vielen Kommunen Priorität, wobei der Kampf gegen die Illegalität zentral ist.

Dass der Status der nicht erfassten Einwanderer plötzlich an einem Papier hängt, das noch nicht einmal von einer US-Behörde ausgestellt wird und einer ganzen Schicht Marginalisierter verspricht, irgendwann US-Amerikaner werden zu können, stößt im Einwanderungsland USA nicht nur auf Zustimmung. Kritiker argumentieren, dies untergrabe US-Recht und sei ein gefährlicher Präzedenzfall. „Indem Bundesstaaten diese Dokumente akzeptieren, ermuntern sie immer mehr Mexikaner, zu uns zu kommen“, moniert Dan Stein von der „Federation for American Immigration Reform“ in Washington, die strikte Einwanderungsgesetze fordert. Befürworter verweisen auf das Sicherheitsrisiko sowohl für die Einwanderer als auch für die US-Öffentlichkeit. Zwischen fünf und acht Millionen Menschen leben illegal in den USA, davon drei Millionen Mexikaner. „Nach dem 11. September wurde den US-Amerikanern schlagartig bewusst, wie viele Leute hier ohne irgendwelche Papiere leben. So bekam die Idee der Matriculas neuen Schwung“, sagt der mexikanische Konsul Enrique Flores.

Vor allem die mexikanischen Konsulate in Bundesstaaten mit vielen illegalen Einwanderern wie Texas, Kalifornien oder New Mexico hätten harte Überzeugungsarbeit geleistet, damit diese Ausweise akzeptiert würden. So verordnete zum Beispiel San Francisco als erste Stadt in den USA seinen Hospitälern und Schulen, die Matricula Consular als amtliches legales Dokument anzuerkennen. In Arizonas Hauptstadt Phoenix kann bei ihrer Vorlage jetzt sogar Anzeige bei der Polizei erstattet werden. Früher war das unmöglich, da Illegale die Ausweisung riskierten.

Obwohl die Plastikkarte Godinez Sosa nur bescheinigt, Staatsbürger Mexikos zu sein, öffnet sie ihm die Türen in die US-Gesellschaft. Der Arbeiter aus einer Fabrik für Klimaanlagen musste bislang seinen Gehaltsscheck für den Wochenlohn in Wechselstuben einlösen, die hohe Gebühren verlangten. Danach verwahrte er das Geld oft in seiner Jackentasche. Illegale Immigranten wurden daher auch eher Opfer eines Überfalls, den sie noch nicht einmal der Polizei melden konnten.

Die neue Entwicklung freut besonders die Banken. Die Illegalen wurden über Nacht zur beliebten Zielgruppe. Das Bankhaus Wells Fargo erlaubte seinen Filialen in 23 Bundesstaaten die Kontoeröffnung, wenn jemand die Matricular Consular vorlegt. Die Bank of America öffnete sogar einen Schalter direkt in einem mexikanischen Konsulat.

Die neue Regelung führt zu langen Warteschlangen vor den Konsulaten. Oft müssen Antragsteller einen ganzen Tag anstehen, um das begehrte Dokument zu erhalten. In Städten mit hohem mexikanischen Bevölkerungsanteil wie Los Angeles oder Houston werden täglich bis zu 500 Ausweise ausgestellt.

Auch Godinez Sosa will als erstes ein Konto eröffnen. Erstmals, seit er vor zwei Jahren in die USA kam, kann er etwas Geld sparen. Doch das Wichtigste sei, dass er sich nicht mehr verstecken müsse. Da nach dem 11. September überall die Kontrollen schärfer geworden sind, riskierte er ständig, ertappt zu werden.

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