Toller Albtraum

Stammgast in der Regenbogenpresse und technisch versierter Regisseur: Der Tänzer Joaquín Cortés ist den Puristen des Flamenco nicht geheuer. Heute tritt er im ICC auf

Es ist doch oft so: Das Erste, was einem spontan zu Spanien einfällt, ist der Flamenco. Dann erst kommen Machismo und Stierkampf. Im Flamenco gehen archaisches Rollenverständis und tiefste Tragik eine Beziehung ein, die man sonst nur in den blutbefleckten Arenen von Sevilla oder Córdoba findet. Der männliche Flamencotänzer, der bailaor, ist eine Mischung aus verzweifeltem Liebhaber und todesmutigem Matador.

Kein Wunder also, dass die Puristen des Flamenco jede Modernisierung ihrer Kunst erbittert kritisieren – schließlich sehen sie durch jede Veränderung den spanischen Nationalcharakter bedroht. Joaquín Cortés ist der Albtraum dieser Gralshüter. Ein Popstar in Flamencostiefeln, der mit Shows wie „Pasión Gitana“ oder „Soul“ weltweit die Stadien füllt und der sich lieber von Pommes Frites und Coca Cola ernährt als von Tapas und Rioja.

Cortés’ Auftritte sind Großereignisse vom Kaliber eines Rockkonzerts – und auch seine Bühnenkostüme von Armani erinnern eher an die Glitzerwelt des Jetset als an die weiten Ebenen Andalusiens. In der Tat war der bärtige Beau in den letzten drei Jahren auch weniger wegen seiner Kunst in den Schlagzeilen. Detaillierte Beschreibungen seiner Affairen mit Naomi Campbell und Jenifer López füllten die Klatschspalten der Regenbogenpresse. Dennoch sind sich Bewunderer und Gegner in einem Punkt einig: Joaquín Cortés ist ein exzellenter Tänzer. Jede Drehung, jedes Stampfen mit dem Absatz, jedes arrogante Aufrichten des entblößten Oberkörpers verraten die harte klassische Ausbildung, die der Roma-Sohn aus Córdoba am Ballet Nacional de España genossen hat.

Trotz der Pop-Attitude und der manchmal schwer erträglichen Selbststilisierung durch Videowände und Messiasgesten bleibt Cortés ein technisch versierter Revolutionär: Ihm ist es gelungen, die Disziplin des klassischen Ballets mit der rauen Wildheit des Flamenco zu verbinden. Auch in seinem neuesten Programm mit dem wenig originellen Titel „Live“ wird es Momente geben, die selbst den kritischsten Puristen begeistern werden. Wenn Cortès nach einer furiosen Pirouette die schweißtriefenden Arme wie zwei Adlerflügel nach oben reißt und bewegungslos verharrt, so liegt in dieser pathetischen Geste so viel arrogante Verletzlichkeit, dass man für einen Moment lang das große Spektakel vergisst. In diesen Momenten kommt er der Kultur seiner Vorfahren sehr nah, und man begreift, warum sich Joaquín Cortés trotz aller Kommerzialisierung noch immer als Botschafter der gitanos versteht.

„Live“ ist im Gegensatz zu den vorausgegangenen Programmen ein reiner Soloabend. Unterstützt von 16 Musikern und Sängern und dem Lichtdesigner Juanjo Beloqui wird Cortés 90 Minuten lang neben Technik und Tradition vor allem sein eigenes Ego zelebrieren. Dabei sind die größten Bewunderer des durchtrainierten Latino inzwischen nicht mehr ausschließlich weiblich. Spätestens seit seinem sinnlichen Kurzauftritt in Pedro Almodóvars Film „Mein blühendes Geheimnis“ ist Joaquín Cortés auch zu einer Ikone der Schwulen geworden, und seine Tanzfotos können von einschlägigen Homepages heruntergeladen werden. Vermutlich wären die Puristen des Machismo auch darüber nicht besonders glücklich

FRANK WEIGAND

Joaquín Cortés heute (Donnerstag) ab 20 Uhr im Saal 1 des ICC, Messedamm 22, Charlottenburg