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Ein nicht selbstverständliches Leben

Michael Verhoeven hat eine Dokumentation über Anneliese Knoop-Graf, die Schwester vom „Weiße Rose“-Mitglied Willi Graf gedreht. Nah an der Porträtierten, sachlich und umfassend: „Die kleine Schwester“ (Karfreitag, 23.00 Uhr, WDR)

von ALEXANDER KÜHN

Was ohne diesen Bruder aus ihr geworden wäre – sie kann es sich nicht vorstellen. In seinem letzten Brief vom 12. Oktober 1943, kurz vor seiner Hinrichtung, schrieb Willi Graf an seine drei Jahre jüngere Schwester: „Du mögest dafür sorgen, dass mein Andenken in der Familie, bei Verwandten und Freunden lebendig und bewusst bleibt.“

Dieser letzte Wille hat Anneliese Knoop-Grafs Leben bestimmt. Nicht nur Freunde und Verwandte, sondern möglichst viele Menschen wollte sie erreichen. Auch heute noch, mit 80 Jahren, hält sie Vorträge, diskutiert mit Schülern und ist dabei, wenn Ausstellungen über die „Weiße Rose“ eröffnet werden. Gemeinsam mit ihrem Mann Bernhard Knoop leitete sie ab 1946 ein Internat in der Lüneburger Heide; ihren Schülern von Willi Graf zu erzählen, erachtete sie immer für selbstverständlich. Antrieb gegeben hat ihr auch die Arbeit Inge Scholls, der Schwester von Hans und Sophie, die bereits 1952 das erste Buch über die „Weiße Rose“ herausbrachte.

Wenn Michael Verhoeven seinen Dokumentarfilm über die alte Dame „Die kleine Schwester“ nennt, dann ist das nicht von oben herab gemeint, nicht im Sinne von: Ach, die Kleine hat doch keine Ahnung. Obwohl ihr großer Bruder stets bemüht war, sie aus seinen Aktivitäten weitgehend herauszuhalten. Das sei nichts für Frauen, hatte er ihr erklärt. Und das hat ihr wohl das Leben gerettet. Mit Michael Verhoeven ist sie eng befreundet, seit der Regisseur, der auch in seinen fiktionalen Filmen oft historisch und gesellschaftlich relevante Themen verarbeitete, 1982 „Die Weiße Rose“ drehte – einen Spielfilm, der in den Schulen gezeigt wird. Nach anfänglichem Zögern hat sie das Projekt damals unterstützt. Sein Film über die kleine Schwester ist keiner, der durch starke Bilder glänzt. Verhoeven widersteht der Versuchung, dramatisierende Elemente einzusetzen. Er lässt die alte Dame erzählen, beobachtet sie bei Gesprächen und Vorträgen.

In Berlin-Steglitz diskutiert sie mit Schülern eines Gymnasiums das nach ihrem Bruder benannt ist; acht Willi-Graf-Schulen gibt es in Deutschland, ungefähr zwanzig sind nach den Geschwistern Scholl benannt, deren Namen auch sonst viel präsenter sind, wenn von der „Weißen Rose“ die Rede ist. „Wie alt war Willi Graf, als er umgebracht wurde?“, will einer der Berliner Schüler wissen. „25 Jahre“, antwortet sie. „Boah!“, entfährt es ihm. In Göteborg besucht sie eine Deutschstunde an einer Montessori-Schule. Ein Mädchen fragt ungläubig: „Gehen Sie auch in deutsche Schulen?“

Viele Stunden Film hat Verhoeven gedreht. Vieles davon hat in den 45-minütigen Dokumentarfilm nicht mehr hineingepasst. Dazu zählt leider alles, was außerhalb der Erinnerung an Willi Graf liegt: Wie Anneliese Knoop-Graf auch heute noch im badischen Bühl ihr Institut leitet, das Eltern berät, die ihre Kinder auf ein Internat schicken wollen. Oder wie Verhoeven sich mit ihren drei Töchtern unterhält, über die Mutter und den Onkel, den sie nie kennen gelernt haben.

Vor ihrem Elternhaus in Saarbrücken, neben dessen Eingang seit zehn Jahren eine Gedenktafel hängt, erinnert sie sich daran, wie sie hier mit ihrem Bruder gespielt hat. Was für ein toller Bruder er war. Und dann sagt sie: „Ich war seine Gefolgschafts-Treue, seine treue Dienerin. Ich rannte ständig hinter ihm her und fand das gut, was auch er gut fand.“ Sie muss die Frage gar nicht aussprechen, die danach in der Luft liegt: Auch wenn er sich für Hitler begeistert hätte?

Eine ähnlich starke Szene hat der Film noch einmal. Als sie erzählt, dass Willi Graf lediglich als Sanitäter an die Front musste. Es sei vielleicht sein Glück gewesen, sagt sie, dass er niemals in eine Lage kam, wo er auf Menschen schießen musste. Wieder muss der Zuschauer sich selbst die Frage stellen: Hätte er es getan? Hypothetische Fragen, die aber nichts von der Achtung nehmen, die Willi Grafs Widerstand und Anneliese Knoops Einsatz einem abverlangen. Im Gegenteil: Die „Was wäre, wenn“-Fragen zeigen nur, wie leicht es hätte anders kommen können – und dass das alles nicht selbstverständlich ist.

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