Am toten Punkt der Politik

Wahlen in Frankreich (I): Die Sozialdemokraten sind ebenso in der inhaltslosen Mitte angekommen wie ihre deutschen Genossen. Damit ist die Zeit der Reformen vorbei

Längst hat man sich angewöhnt, die organisierten Rückzüge des Wohlfahrtsstaates Reform zu nennen

Die Nachricht liegt schon seit längerem auf dem Tisch. Das Jahr 2002, Wahljahr in Frankreich und in Deutschland, wird sie bestätigen: Die Zeit für soziale Reformen ist in den beiden Herzländern der Europäischen Union auf lange Sicht vorbei. Zumindest was Reformen betrifft, die diesen Namen noch verdienen.

Es sind in Frankreich wie in Deutschland die ersten bedeutenden Wahlen nach der Einführung der Gemeinschaftswährung. Dass hüben wie drüben in den Wahlkämpfen, denen die nationalen Wahlvölker nur gelangweilt zusehen, keine der beteiligten Parteien soziale Reformprogramme von Gewicht ankündigen, hat viel mit den vom Euro erzwungenen Sparhaushalten zu tun.

Das ist zwar dem Publikum noch nicht recht bewusst. Aber es hat sich ohnehin im vergangenen Jahrzehnt abgewöhnt, den Parteien und den Regierungen noch die Anstrengung von Reformen abzuverlangen. Denn es hat begriffen, dass soziale Reformen ihm selbst wehtun, mühsam gehaltene Gleichgewichte umstürzen und Konflikte heraufbeschwören, denen die politische Klasse, überhaupt das repräsentative System nicht mehr gewachsen ist. Also lässt man es lieber gleich.

Wenn soziale Reformen aber für längere Zeit nicht erwartet und daher auch nicht versprochen werden können, zeigt das an, dass der demokratische Prozess blockiert ist. Denn Demokratie heißt seit jeher immer währende Reform. Im Zustand der Blockade sind heute nicht nur Frankreich und Deutschland, sondern auch die meisten anderen Staaten der Europäischen Union. In Frankreich äußert es sich darin, dass noch nie ein so großer Teil der Bürger zu der Auskunft bereit war, diesmal gar nicht wählen zu wollen. Und das jetzt, da ihnen vier Wahlgänge bevorstehen: von der ersten Runde der Präsidentenwahl in drei Wochen bis zur Abschlussrunde der Parlamentswahlen Ende Juni. Durchaus denkbar ist, dass am Ende ein weiteres Jahrfünft der Kohabitation bevorsteht, also ein weiterhin lahmendes politisches System, das eine Verfassungskrise auslösen könnte: Blockade der Parteienpolitik, Herrschaft des Euro, weiterer Verzicht auf Reformerwartungen und das Erlöschen des Bürgerinteresses, das nicht mehr auf politische Entscheidungen setzen kann.

Auch in Frankreich ist die Sozialdemokratie, wie schon zuvor in Großbritannien und in Deutschland, endgültig in der Mitte angelangt. Von der Mitte, die den toten Punkt des Gleichgewichts aller Interessen bezeichnet, können keine sozialen Reformen von Belang ausgehen. Was im vergangenen Jahrzehnt unter der Schriftführung der herrschenden Marktkräfte als „Reform“ verlangt und von der Politik recht und schlecht geliefert wurde, waren denn auch nur Anpassungen. Längst hat sich die Medienöffentlichkeit angewöhnt, die organisierten Rückzüge des Wohlfahrtsstaates vor den internationalen Marktzwängen als Reform zu bezeichnen. Entstaatlichungen, Liberalisierungen, Absenkung von Standards der Mitbestimmung, Niederhaltung der Gewerkschaften, das alles ist für die Mehrheit der wirtschaftlich meinungsbestimmenden Bürger/Aktionäre bereits Reform. Wenn mit dem Begriff einst die Absicht von regierenden Parteien gemeint war, den nationalen Gesellschaften eine bessere Modernität zu eröffnen, so ist diese Bedeutung heute platt gewalzt.

Als das linke Bündnis vor fünf Jahren unerwartet an die Macht kam, hatte es noch einmal ein großes Reformwerk eröffnet, das auf lange Zeit das letzte bleiben wird: die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Damit wurde, den Franzosen links wie rechts wohl bewusst, an eine fast schon mythische Tat angeknüpft: die Einführung der 40-Stunden-Woche unter der Volksfrontregierung zur Mitte der Dreißigerjahre.

Die Regierung Jospin betrieb mit ihrer Arbeitszeitpolitik also noch einmal ein sozialdemokratisches Großprojekt, mit dem die Nation vorsichtig aus dem etatistischen Wohlfahrtsstaat herausgeführt und modernisiert werden sollte – mit etatistischen Mitteln. In Frankreich kam ja die Reform, ebenso wie in Deutschland und England, immer von oben, aus den Regierungen.

Die energische Arbeitsministerin Martine Aubry, der zweiten, der sozialdemokratischen Linken angehörig, wollte mehr als nur Erleichterungen für Lohnerwerbstätige. Sie verband die Verminderung der Arbeitszeit – durchschnittlich um vier Stunden – mit der Absicht, die Betriebe zu Rationalisierung, flexibler Organisation und der Vermehrung vonTeilzeitarbeit anzuhalten. Das verlangte staatliche Lohnkostenzuschüsse und dergleichen – nicht billig, aber für den Staat noch erträglich.

Wenn keine soziale Reformen möglich sind, dann ist der demokratische Prozess blockiert

Das sehr sozialdemokratische Erneuerungswerk war auf die große und die mittlere Industrie sowie auf den öffentlichen Dienst angelegt, wurde dort auch in den ersten Schritten verwirklicht. Für die Franzosen mit schwachem Lohneinkommen und schwacher Qualifikation brachte die Reform Beträchtliches. Doch sie ging zum Teil auf Kosten des Handwerks und der kleinen Betriebe, die für die soziale Infrastruktur, für die Alltagskultur Frankreichs so wichtig sind. Die Metzger, Bäcker und Installateure, die ihren Betrieb mit Frau, Gesellen und Lehrling führen, finden nun keine jungen Mitarbeiter mehr. Denn die wollen nur noch Arbeit, wenn auch weniger selbstständige, im großen Betrieb. Im Familienbetrieb fängt man schließlich um sieben Uhr morgens mit der Arbeit an, die Inhaber haben ihre garantierte 60- oder 70-Stunden-Woche. Wenn sie nun nach französischer Sitte mit Anfang 60 ihre Kleinfirma übergeben oder verkaufen wollen, finden sie dafür keine Abnehmer.

Auch dies trägt dazu bei, dass die notorisch undankbaren Franzosen die alles in allem gelungene Reform der Linken nicht mit Wählerstimmen honorieren werden. Sie noch einmal mit Reformversprechen zu locken, ist den französischen Sozialdemokraten so wenig möglich wie den deutschen oder den britischen. Schon jeder Gedanke an ernsthafte Reform, etwa der Bildungs- und der Gesundheitssysteme, ist ihnen allen bereits aus einem Grund versagt: Die unerbittliche Euro-Disziplin lässt keinem Unionsstaat noch hinreichende Finanzmittel, um sich an wirksame Reformen zu wagen. In Frankreich lässt sich daher nicht auf glücklichere Tage hoffen. Denn auch wenn der neue Aufschwung, der bislang nur von den geldüberschwemmten Anlegerinteressen herbeigeredet wird, tatsächlich eintreffen sollte: Er wird selbst mit jährlich drei Prozent Wachstum kaum neue Arbeitsplätze schaffen oder die Arbeitslosigkeit vermindern.

Die Linke weiß das, sie geht mit leeren Händen in die schrecklichen, inhaltslosen Wahlen dieses Sommers, ebenso wie die entleerte Partei Schröders. Schon im Herbst wird man sehen können, wie die Kraftlosigkeit aller Parteien, auch der Labour Party, die EU auseinander driften lässt. Sie kann nämlich auf Dauer nur überleben, wenn alle Nationen kräftig genug zu ihrer Reform sind. Die Eurofalle wird das große politische Thema des Jahres sein. CLAUS KOCH