Revolutionäre Zellen

Um die Zukunft der Arbeitsgesellschaft zu entdecken, müssen wir ein heißverteidigtes Dogma schleifen: die Verbindung von Erwerbseinkommen und Arbeitsplatz

Wäre es schlimm, einen profitablen Markt zu finden und statt Arbeitsplätzen nur Einkommen zu schaffen?

Zwei der wichtigsten Produktionsfaktoren der Industriegesellschaft heißen Energie und Arbeitskraft. Beide durchleben seit 30 Jahren krisenhafte Entwicklungen. Beide sind Hauptschlachtfelder im Parteienstreit. Und in beiden werden immer und immer wieder die gleichen Schlachten mit den gleichen Argumenten geschlagen, als ob die Zeit stehen geblieben wäre.

Wie zäh und mühselig es ist, auf dem traditionellen Spielfeld zu gewinnen, hat in der Energiepolitik der Kampf um den Atomausstieg gezeigt. Und dass es am Ende darauf nicht einmal ankommt, wird die Brennstoffzelle beweisen. Sie wird die Energieversorgung gleichzeitig demokratisieren und ökologisieren, und sie zertrümmert die Hilfskonstruktion der Gigatechniken, die für das Industriezeitalter so typisch waren. In wenigen Jahrzehnten wird sich keiner mehr vorstellen können, wofür Atomkraftwerke überhaupt gebraucht wurden.

In der Arbeitsmarktpolitik sind wir da noch ein wenig zurück. Hier wird noch zäh um die Zukunft des tarifgebundenen Vollzeitarbeitsplatzbesitzers gerungen, der hier in etwa die Rolle spielt wie die Atomkraftwerke in der Energiepolitik: Er ist stetig verfügbar, einfach kalkulierbar und sechs Wochen im Jahr abgeschaltet, um die Batterien wieder aufzuladen. Noch immer trägt er die Grundlast, aber von Jahr zu Jahr verliert er an Bedeutung. Und während die Traditionalisten erbittert um das Überleben der Dinosaurier kämpfen, suchen die fortschrittlichen Kräfte der Debatte nach Alternativen. Seit 30 Jahren kommen sie damit aber nicht richtig voran. Entweder sind es die Gutmenschen der marktfernen Versorgung oder die Asketen mit Bürgergeld. Warum nur kann es in der Arbeitsmarktpolitik nicht auch solche revolutionären Zellen geben wie in der Energiepolitik?

Es gibt sie. Wir sehen sie nur nicht.

Dabei liegen sie genau vor unserer Nase. Wir finden sie dort, wo man in Zukunft auch die Brennstoffzellen finden wird – bei uns zu Hause. Um sie erkennen zu können, müssen wir allerdings ein Dogma des Industriezeitalters schleifen: die Verbindung von Erwerbseinkommen und Arbeitsplatz. Es ist längst nicht mehr zwingend, dass Erwerbsarbeit an Arbeitsplätzen stattfinden muss, dass Erwerbseinkommen von Arbeitgebern gezahlt wird und dass Erwerbseinkommen die Gegenleistung für etwas sind, was sich wie Arbeit anfühlt.

Ein Beispiel, um zu zeigen, warum dieses Dogma heute keines mehr sein muss: Wie wäre es, wenn man dafür bezahlt würde, sein Kind in den Kindergarten zu bringen? Dafür stellen wir uns vor, dass beide große Kirchen in einem Anfall von Unternehmergeist in allen von ihnen geführten Kindergärten eine Ecke einrichten, in der Unternehmen neue Produkte vorstellen können. Für jeweils eine Woche können diese dort ein Eckchen oder gleich die ganze Ecke mieten, um ihre brandneuen Browser, Bratpfannen oder Biojogurts zu präsentieren. Für die Unternehmen wäre das ein erstklassiges Marktforschungsinstrument, für die Kirchen eine willkommene Einnahmequelle, und für die Eltern würde, je nach Geschäftsmodell, entweder der Kindergartenbeitrag reduziert oder die Teilnahme an den Produkttests honoriert.

In diesem Beispiel erzielen die Eltern zwar ein Erwerbseinkommen, aber eben nicht durch Erwerbsarbeit: Sie werden dafür bezahlt, dass sie in den Kindergarten gehen und sich dort Zeit nehmen, um etwas Neues auszuprobieren. Wer auf dem Weg zur Arbeit nur schnell das Kind an der Pforte abwirft, bekommt davon eben nichts ab.

Warum sollten Unternehmen Menschen nur dafür bezahlen, dass sie an einem fest definierten Arbeitsplatz eine fest definierte Aufgabe erledigen? Nur weil das immer so war? Letztlich kommt es doch darauf an, Profit zu machen – und was wäre so schlimm, wenn man einen profitablen Markt findet und dabei zwar keine Arbeitsplätze schafft, aber immerhin Einkommen?

Greifen wir uns dafür einmal den besonders wachstumsträchtigen Markt für Informationsdienstleistungen heraus und konstruieren hierfür ein ebenso kundenfreundliches wie noch nicht existentes Angebot – den Ozean des Wissens: Sie stellen Ihrem Telefon (für Traditionalisten: Ihrem Computer) eine Frage, und innerhalb von zehn Minuten haben Sie die Antwort. Ein Unternehmen, das einen solchen Ozean des Wissens aufbauen will (früher nannte man das schlicht „Auskunft“), kann das mit Festangestellten, Datenbanken und Suchmaschinen tun. Es kann aber genauso gut eine offene Systemarchitektur nach dem Taxiruf-System konzipieren.

Wie bei den ehrenamtlichen Wissensdiensten im Internet lasse ich mich einmalig als Experte für bestimmte Themengebiete registrieren, und immer wenn ich Zeit und Lust habe, schaue ich ins System, ob gerade Fragen offen sind, die ich beantworten könnte. Wenn ja, greife ich sie mir heraus und beantworte sie – und am Monatsende honoriert mich der Anbieter für alle von mir gegebenen Antworten, natürlich abhängig von deren Quantität und Qualität. So flexibel und für alle Seiten profitabel die so entstehenden Beschäftigungsverhältnisse auch sind, für Arbeitsämter und Sozialversicherungen wäre es eine Horrorvorstellung, solche Verhältnisse in die real existierenden Schubladen einzusortieren.

Aber diese Schubladen kommen mit der neuen Vielfalt der Arbeitswelt ohnehin nicht mehr klar. So könnte – anderes Beispiel – nicht nur das Arbeitsamt dafür zahlen, dass Menschen zu Hause bleiben. Auch Versandhäuser und Zustelldienste können ihre Dienste günstiger kalkulieren und sogar neue Märkte erschließen, wenn sie Menschen dafür honorieren, dass sie zu bestimmten Zeiten garantiert zu Hause sind – und Pakete für die Menschen entgegennehmen, die eben nicht zu Hause, sondern bei der Arbeit sind. Die Anbieter können damit das Problem der letzten Meile lösen und den immensen Kostenblock loswerden, den vergebliche Zustellversuche verursachen. Und die potenziellen Kunden müssen nicht mehr befürchten, den ganzen Samstagvormittag in der Schlange am Paketschalter zu verbringen, nur weil die Post nicht in der Lage ist, zu arbeitnehmerfreundlichen Zeiten zu liefern. Und diejenigen, die diese Problemlösung ermöglichen, erhalten ihr Honorar für den schlichten Luxus, Zeit zu haben.

Der tarifgebundene Vollzeitarbeitsplatz-besitzer ist ein Relikt des vergehenden Industriezeitalters

Wir waren daran gewöhnt, dass der Strom aus der Steckdose kommt. In Zukunft können wir ihn aus dem eigenen Keller kommen lassen. Wir sind daran gewöhnt, dass es keinen Lohn ohne Arbeitsplatz gibt. In Zukunft geht’s auch ohne.

Für diese Emanzipation des Erwerbseinkommens ist übrigens kein Land besser geeignet als Deutschland. Denn nirgends sonst ist das so nutzbare Potenzial so groß – denn nirgends sonst wird so vielen erwerbswilligen und hoch qualifizierten Menschen die Suche nach einem Arbeitsplatz unmöglich gemacht. Vielleicht hätte so am Ende der skandalöse Zustand der Kinderbetreuung in Deutschland doch noch sein Gutes.

DETLEF GÜRTLER