village voice Cora Frosts neues Album „Nexte Lied“
: Ideenreicher Amoklauf

Die Plattenhändler werden ihre neue CD wahrscheinlich ins Fach „Chanson“ einräumen und zwischen Friedrich-Hollaender-Interpretationen und Tim Fischer packen. Der Fan wird genau dort nach ihr suchen, aber genau genommen hat Cora Frost sich aus dieser Sparte bereits genauso weit herausentwickelt wie ihre Kollegin Tanja Ries mit ihren elektronisch-atmosphärischen Pop-Arrangements.

Auf dem Plattencover sitzt Cora Frost mit griesgrämig nach unten gezogenen Mundwinkeln vor einer giftgrünen Wand. Eine schön-scheußliche Sonnenbrille auf der Nase und eine weiße Kunstfellmütze mit Ohrwärmern auf dem Kopf. Sie missachtet hier auf angenehm skurrile und beglückende Weise den so genannten guten Geschmack wie die Rechtschreibung.

Cora Frost und ORKesterR spielen „Nexte Lied“. Als das gleichnamige Bühnenprogramm vor einem Jahr uraufgeführt wurde, waren sich die Premierengäste sicher: An diesem Abend wurde Chansongeschichte geschrieben. Alles andere als Kleinkunst war geboten worden, etwas Neues, Formen und Genre Sprengendes. Ein in sich geschlossenes Kunstwerk, das sich einem schnellen Zugriff verwehrt.

Was damals für Verstörung und Begeisterung sorgte und bei einer Kleinkunstkollegin sogar zu einem frühzeitigen verheulten Abgang führte, weil sie sich danach mit ihrem altbackenen Liedchen nicht mehr auf eine Bühne stellen wollte, das gibt’s nun endlich auch in einer perfekten Studioversion.

„Nexte Lied“ ist keine Platte, die man mal so nebenbei durchlaufen lässt. „Nexte Lied“ bedeutet: Mit jedem nächsten Lied laufen Frost und ihre Fünfmannband um den Trompeter Paul Brody mit neuen Ideen Amok. Nichts bleibt verschont, hemmungslos vergreift man sich an den Musikstilen. Die E-Gitarre zitiert Jimmy Hendrix, die Orgel jault wie in den Siebzigerjahren. Die Rhythmen wechseln ungehemmt wie Cora Frosts Stimm- und Tonlagen. Gieksen, tirilieren, gurren. Mit tiefer Diseusenstimme rezitieren, mit hellem Gesang jubeln und dann opernhaft sich in die Höhe schwingen. Die Kompositionen klauben hemmungslos Partikel aus dem musikalischen Kosmos und lassen den Zuhörer erst mal irritiert und dumm herumstehen.

Als wäre dieser Experimental-Rock-Avantgarde-Chanson Funk-Pop noch nicht genug, liefern die Songtexte noch weitere Stolperfallen dazu. Cora Frosts Texte, vertont von ihrem langjährigen musikalischen Begleiter Gerd Thumser, von Peer Raben, Susanne Beancor und Mark Scheibe, sind surreale, fragile, poetische Sekundenaufnahmen. Wirklichkeitsfetzen voll Poesie und schnoddrig-groteskem Humor. Sie singt von „Magic Doris“ von der Oranienstraße, der „schönsten aller Transen“, von Fleischbällchen auf dem Büfett. „Schön sind immer nur die anderen“, stellt Cora Frost fest und ist gar nicht traurig darüber: „Ich hab’ was Besseres zu tun.“ Der Supermarkt wird zum Schauplatz von Alltagsdramen, und der Japanerin ruft sie zu: „Sag doch mal ‚Fischer Fritz fischt frische Fische‘!“

Bereits wenn „Nexte Lied“ zum zweiten Mal durch den CD-Player gelaufen ist, haben sich die Melodien festgesetzt. Und spätestens, wenn sich der Ohrwurm „Supermarkt“ mit seinem unwiderstehlichen Loop und seinem Chor (u. a Lucy van Org und Michael Schiefel) zu einem choralartigen Gesang hochschraubt, haben wir den Finger auf die Repeat-Taste gesetzt und zumindest diesen einen Hit entdeckt. Der taugt sogar als Gute-Laune-Nummer für den Großputz am Samstagnachmittag. AXEL SCHOCK

Cora Frost und Orkester „Nexte Lied“ (Traumton Records); vom 9. 4.–21. 4. tritt Cora Frost täglich außer Mo. ab 20.30 Uhr in der Bar jeder Vernunft, Schaperstr. 24, Wilmersdorf, auf