Fremde Welten im Kopf

Schizophrene Patienten haben vor allem mit Vorurteilen und falschen Mythen zu kämpfen. Noch wissen die Wissenschaftler nur wenig über die Ursachen und die Auslöser der psychischen Krankheit. Schizophrenie ist jedoch nicht unheilbar

von EVELYN HAUENSTEIN

Lukas liegt in der Dusche, zusammengekrümmt wie ein Embryo. Nur das Rauschen des Wassers kann die Stimmenbesänftigen. Stimmen, die in seinem Kopf umherschwirren, die ihn bedrohen, die er nicht mehr loswerden kann. Lukas ist die Hauptfigur in Hans Weingartners preisgekrönten deutschen Kinofilm „Das weiße Rauschen“.

John ist Mathematiker und arbeitet für das Pentagon: Er soll Codes knacken und mit seiner überlegenen Intelligenz die Schachzüge des Gegners vorherzusagen. Gleichzeitig wird er von einem viel bedrohlicheren Feind verfolgt: seinem eigenen Bewusstsein. John Nash – heute noch lebender Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften – ist ein Genie. Ihm widmete Hollywood-Regisseur Ron Howard seinen Streifen „A Beautiful Mind“, der vor kurzem mit insgesamt vier Oscars geadelt wurde.

Lukas und John haben auf den ersten Blick nichts gemeinsam: Ein Student, der gerne mal mit psychedelischen Drogen experimentiert, und ein zugleich arroganter und brillanter Wissenschaftler. Und doch leiden beide unter der gleichen Krankheit: Lukas und John sind schizophren.

Psychische Krankheiten werden derzeit als cineastisches Thema offenbar wieder attraktiv. Das überrascht: Denn die Krankheit Schizophrenie und die davon Betroffenen haben ein wenig positives, widersprüchliches gesellschaftliches Image. So hat eine amerikanische Studie gezeigt, dass in zur Hauptsendezeit ausgestrahlten Programmen 70 Prozent der psychisch kranken Charaktere als gewalttätig porträtiert werden, aber nur 42 Prozent der Gesunden. Die Vorstellung, dass Schizophrenie unheilbar oder gar ansteckend sein könnte, hält sich ebenfalls hartnäckig in manchen Köpfen.

Mit vielen derartigen Mythen konnten wissenschaftliche Studien inzwischen aufräumen: An Schizophrenie erkrankte Menschen sind weit häufiger Opfer von Missbrauch und Gewalt als selbst die Täter. Schizophrenie ist nicht unheilbar. Bei jedem fünften Patienten bleibt es bei einer einzigen schizophrenen Episode im Leben. Und: An der psychischen Krankheit, an der rund 800.000 Menschen in Deutschland leiden, können andere sich definitiv nicht anstecken.

Zwar wissen Forscher noch wenig über die Ursachen, eines aber ist klar: Schizophrenie entsteht immer durch ein Zusammenspiel vieler verschiedener Faktoren, „den Auslöser schlechthin“ gibt es nicht.

Fest steht, dass bei Schizophrenen der Botenstoff Dopamin im Gehirn in übermäßig hohen Konzentrationen vorliegt. Dopamin steigert die Empfindlichkeit der Gehirnzellen für Reize. Für gewöhnlich ist dieses gesteigerte Bewusstsein nützlich bei Stress oder Gefahr, dauerhaft zu viel Dopamin kann das Gehirn in einen hyperaktiven Zustand versetzen und zur Bewusstseinsspaltung, zur Schizophrenie führen. Doch woher das Zuviel an Dopamin kommt, ist unbekannt. Möglicherweise liegt die Lösung des Rätsels in den Genen: Forscher haben das menschliche Erbgut auf der Suche nach einem „Schizophrenie-Gen“ durchkämmt – das sich bisher allerdings nicht aufspüren ließ. Der Würzburger Psychiater K. Peter Lesch berichtet im Fachblatt The Lancet von rund fünfzehn Stellen im Erbgut, die bei schizophrenen Patienten verändert waren. Doch welche Konsequenzen die Veränderungen an solchen „Kandidatengenen“ im Körper haben, ist noch unklar.

Als mögliche Einflussfaktoren wurden auch schon Viruserkrankungen, Gehirnschäden durch Sauerstoffmangel bei der Geburt und Ernährungsgewohnheiten diskutiert. Möglich ist vieles, sicher ist nichts – denn „Schizophrenie ist kein einheitliches Krankheitsbild wie aus dem Bilderbuch, wie zum Beispiel psychisch bedingte Tics oder bestimmte Formen von Depression“, erklärt Hinderk Emrich, Psychiater an der Medizinischen Hochschule Hannover. „Schizophrenie-Patienten sind alle total verschieden – bei jedem Kranken muss man völlig neu einen ganzen Kosmos ergründen.“

Die „Veranlagung zur Schizophrenie“ sei in jeden Menschen latent vorhanden, meint Emrich. Unter bestimmten experimentellen Bedingungen wie Schlafentzug, Isolation von der Außenwelt und Einnahme von psychedelischen Drogen würde sich bei jedem Menschen früher oder später schizophrene Symptome entwickeln. Die Frage sei nur, wann. „Dabei bedeutet das schizein der phrenes – die Spaltung der Psyche – nicht so sehr die innere Spaltung des Bewusstseins in mehrere nicht mehr integrierbare Aspekte“, betont Emrich, „sondern vor allem das Abgespaltensein von den anderen, die Unüberwindbarkeit der Barriere von Ich und Du.“ Schizophrene Genies sind relativ selten. Manchen Kranken gelingt jedoch die „doppelte Buchführung“: Sie schaffen es, die Welt in ihrem Kopf mit der Welt um sie herum in Einklang zu bringen, und schöpfen daraus kreatives Potenzial. „Die meisten leiden jedoch mehr unter ihrer Krankheit, als dass sie daraus einen Gewinn für sich ziehen können“, kommentiert Emrich.

Auch Lukas aus „Das weiße Rauschen“ ist kein „Modellkranker“. Am Ende des Films sitzt er am Strand und lauscht dem Rauschen des Meeres, unendlich weit weg von seinem Alltag, von der Klinik, von der Krankheit. Schizophrenie sei nur die Folie für die eigentliche Frage, die der Film stelle, meint Hinderk Emrich, der den Regisseur fachlich beraten hat. „Was bedeutet es, in seiner eigenen Subjektivität gefangen zu sein? Wie finde ich den Weg ins Freie?“ Fragen, die jeder sich stellen muss, egal ob er in einer oder zwei Welten lebt.