„Das ist ein sinnlicher Vorgang“

Gleichzeitig ist besser: Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Walter Kempowski über Computer und sein großes Multimediaprojekt „Ortslinien“

taz: Wie viele Computer besitzen Sie?

Walter Kempowski: Bei mir zu Hause stehen drei: zwei große und noch ein alter. Und weitere sind, glaub ich, irgendwo unterwegs. Den hochkantigen haben wir verkauft. Vier, sieben, acht, es gibt ja noch das Laptop, aber das ist ja nichts Besonderes, jeder Maler hat ja auch 50 Pinsel oder mehr. Das ist weder sensationell noch irgendwie erwähnenswert.

Wann hatten Sie erstmalig mit Computern zu tun?

In den späten Achtzigerjahren hatte ich einen Lehrauftrag an der Brigham-Young-Universität in Provo, das liegt im Staate Utah in den USA. Der Professor, der mich eingeladen hatte, war gerade dabei, eine große Konkordanz über die neun Bände meiner „Deutschen Chronik“ herzustellen, und wirtschaftete mit einem wunderschönen Computer herum. Blau mit brauner Schrift, diese Farben haben mich angemacht. Das Scanner-Gerät, das er benutzte, war so groß wie ein kleiner VW-Kastenwagen.

Das hat mir sehr imponiert, und als ich dann nach Hause kam, hat mein damaliger Mitarbeiter gesagt: Das lernst du sowieso nicht, du bist viel zu alt.

Das war nicht sehr freundlich.

Dann hab ich abgewartet, dass er mal Urlaub machte, und mir dann in seiner Abwesenheit so ein Gerät angeschafft, einen Olivetti, ein furchtbares Ding, grün auf dunkelgrün. Der speicherte dauernd ab. Immer wenn man im schönsten Schwunge war, dann plötzlich, Tschk!, hört er auf, speichert er ab, und dann dauerte das endlos, zwei Minuten oder so, und denn ging’s weiter, furchtbar!

Haben Sie sich denn dran gewöhnt?

Ja, auf dem habe ich herumgespielt, aber so richtig hat mich das nicht befriedigt. Romane konnte ich nicht drauf schreiben. Und da habe ich eben diesen genialen Augenblick gehabt, oft entscheiden ja Sekunden über die ganze Zukunft … Ich hatte damals schon sehr viele Tagebücher aus dem ganzen Jahrhundert gesammelt. Da habe ich mal probeweise zwei Tagebücher derselben Zeit eingegeben, von März 1945. So, habe ich mir überlegt, könnte ich alle Tagebücher und Briefe meiner Sammlung derselben Tage quasi zusammenschieben. Ich konnte das nicht mal ausdrucken, ich glaube, ich hatte gar keinen Drucker damals.

Und was sind denn nun Ihre „Ortslinien?“

Ich nehme also Texte, Fotos, Filme, Gemälde, Musikstücke auf und ordne sie dem Kalendarium zu. Da treffen dann die verschiedenen Medien aufeinander und vermitteln ein geradezu räumliches Zeitgefühl. Wobei ich die untere Grenze bei 1850 ansetze, beginne also mit einem Echo auf die Revolution 1848 und gehe bis zum Jahr 2000.

Was nehmen Sie da auf?

Der Grundstock meiner Arbeit ist mein Archiv, das sind meist Texte von unbekannten Menschen, aber auch „graue“ Publikationen jeder Art. Außerdem Schnappschussfotos von Hobbyfotografen. Das sind sicher über 300.000 Stück. Aber leider meistens nicht datiert. Und was die Musik angeht: Neulich habe ich mir einen Karton mit Rockmusik besorgt, die ich nicht ausstehen kann. Aber wenn ich sie im Kontext zu Texten, meinetwegen einem Tagebuch von Rühmkorf, sehe und einem Foto aus der Zeit, dann wächst auf einmal eine gewisse Kenntnis dieses Genres. Auch andere akustische Quellen zapfe ich an: das Geräusch der V 1, Hitlers Wunderwaffe, zum Beispiel, die gibt’s im Schallarchiv des Norddeutschen Rundfunks. Das Geräusch einer vorbeifliegenden V 1 lässt sich in „Ortslinien“ hineinoperieren.

Wie steht’s mit der Komposition? Müssen sich bei einem „Ortslinien“-Tag Text, Bilder und Musik aufeinander beziehen?

Das ist ein sinnlicher Vorgang, wie die Bildung eines Kristalls in einer gesättigten Lösung. Wenn sich die betreffenden Dateien gefüllt haben, stellt man auf einmal fest, dass die Texte sich um bestimmte historische Ereignisse herum häufen und Kristalle bilden, wie man es nennen könnte.

Sie sind ja auf dem neuesten technischen Stand …

Ich brauche eigentlich einen dreiteiligen Computer, ich bin überzeugt davon, dass es den in ein, zwei Jahren geben wird, auf dem ich die Phänomene des einzelnen Tages, die Daten also dreiteilen kann. Der Haupttext läuft also in der Mitte und ein ergänzender Text, der darauf antwortet, auf der linken und vielleicht Fotos und Bilder auf der rechten Seite. In der Mitte der Hauptcomputer, wie so ein Triptychon, und rechts und links daneben die anderen beiden Bildschirme.

Hoffen Sie, mit den „Ortslinien“ noch ewig im Internet anwesend zu bleiben?

Es ist ein bisschen so wie die Forscher, die ja diese Jupitersonden in Gang setzen, ich glaube, sieben Jahre vorher feuern sie die ab. Und dann kriegen sie einen Schlaganfall, sind schon tot, und die Sonde ist immer noch nicht angekommen. Und so ist das also jetzt hier auch. Ich hoffe durch das Zusammenziehen einer Crew, Rechercheure, Layouter, Techniker oder Koordinatoren, dass man diese Crew von zehn, zwölf Menschen jetzt einschwört auf dieses wunderbare Projekt. Dass die eigentlich mein Abtreten irgendwann gar nicht mehr bemerken. Sondern man geht eben einfach: Kinder, jetzt habt ihr’s ja, jetzt macht das so weiter!

INTERVIEW: FALKO HENNIG

Walter Kempowski liest heute Abend ab 20 Uhr, im Café bei Kiepert, Schönhauser Allee 78–80, Arcaden, und am Freitag, 20 Uhr, im AlliiertenMuseum, Clayallee 135, jeweils aus dem „Alkor Tagebuch 1989“ und aus „Echolot“