Dem belgischen Beispiel folgen

Die Arbeit nationaler Gerichte nach dem „Weltrechtsprinzip“ bleibt auch nach der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes notwendig

Die spanische Anklage gegen Chiles Exdiktator Pinochet basierte auf dem „Weltrechtsprinzip“

aus Brüssel BERND PICKERT

Die Täter laufen frei herum. Sie bekleiden Ämter in Regierungen oder Wirtschaftsunternehmen, gehören nach wie vor der Armee oder der Polizei ihres Landes an. Die Straflosigkeit (englisch: impunity) für Verbrechen gegen die Menschheit, Kriegsverbrechen oder Völkermord ist in vielen Ländern der Welt banale Realität. Das soll sich ändern – und wie es um den internationalen Kampf gegen die Straflosigkeit bestellt ist, war Thema einer Konferenz in Brüssel Mitte März, die von der Koalition von Nichtregierungsorganisationen für den Internationalen Strafgerichtshof gemeinsam mit dem belgischen Außenministerium organisiert wurde.

Seit 1993 gibt es in Belgien ein Gesetz, nach dem die belgischen Gerichte ausdrücklich gefordert sind, Anklagen wegen Verbrechen gegen die Menschheit, Völkermord oder Kriegsverbrechen anzunehmen, auch wenn diese im Ausland und ohne unmittelbare Beteiligung Belgiens oder belgischer Staatsangehöriger auf Seiten der Täter oder Opfer begangen wurden. Dieses „Weltrechtsprinzip“ (englisch: Universal Jurisdiction) führte in Belgien bereits zur Verurteilung von Tätern des ruandischen Völkermords von 1994 – weitere Klagen, unter anderem gegen Israels Ministerpräsidenten Ariel Scharon wegen der Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila 1982 und den früheren Präsidenten des Tschad, Hissène Habré wegen tausender extralegaler Hinrichtungen während seiner Amtszeit 1982–1990, werden derzeit geprüft. Auch die spanische Anklage gegen Chiles Exdiktator Augusto Pinochet, die 1998 zu dessen Festnahme in London führte, basierte auf dem Weltrechtsprinzip. Das „Völkerstrafgesetzbuch“, das in Deutschland derzeit vorbereitet wird, soll das Weltrechtsprinzip hier verankern.

Denn auch wenn der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) arbeitsfähig ist, kann er doch nur einen Bruchteil der Fälle bearbeiten: Er darf keine Fälle annehmen, die vor dem In-Kraft-Treten des Statuts zum 1. Juli diesen Jahres geschehen sind. Chile, Ruanda, Afghanistan – kein Thema mehr für den IStGH. Sein Wirkungskreis bezieht sich nur auf Mitgliedsländer, und seine Kapazitäten sind begrenzt. Insofern bleibt die nationale Justiz unerlässlich im Kampf gegen die Straflosigkeit.

Die Brüsseler Konferenz erhielt besondere Brisanz, da nur wenige Wochen vorher der Internationale Strafgerichtshof (IGH) entschieden hatte, dass eine belgische Klage gegen einen ehemaligen kongolesischen Außenminister unzulässig sei, weil der Mann zur Zeit der Klageerhebung noch im Amt gewesen und daher immun gewesen sei. Teile der belgischen Regierungskoalition wollen die Anwendung des Gesetzes stark einschränken – nicht zuletzt auf Grund der Befürchtung, dass die belgischen Gerichte überfordert sind, wenn sie mit Klagen aus aller Welt überzogen werden. Belgiens Außenminister Louis Michel sicherte bei der Konferenz zu, man werde das Gesetz nur leicht überarbeiten und forderte weitere Länder auf, dem Beispiel Belgiens zu folgen. Doch Belgiens Senatspräsident Armand de Decker machte mehr als deutlich, dass die Zukunft des Gesetzes so sicher nicht ist.

Die Diskussionen der über 100 KonferenzteilnehmerInnen aus allen Teilen der Welt zeigten, wie viele Fragen noch einer Klärung bedürfen. Wie verhält es sich etwa in Fällen, da die jeweiligen Gesellschaften bewusst auf die Strafverfolgung verzichten? Wahrheitskommissionen wie die südafrikanische etwa, die den Tätern für ihr Geständnis Amnestie zusicherten, könnten in Zukunft vor dem Strafgerichtshof als Unwillen oder Unfähigkeit der Justiz ausgelegt werden, auf Grund derer der IStGH sich für zuständig erklären könnte.

Der neue Strafgerichtshof darf keine Fälle bearbeiten, die vor dem 1. Juli dieses Jahres geschehen sind

Oder was ist, wenn in einem Land ein Pro-forma-Verfahren gegen einen mutmaßlichen Täter durchgeführt wird, das mit Freispruch oder geringfügiger Strafe endet? Nach einem allgemeinen Rechtsgrundsatz darf niemand wegen der gleichen Tat zweimal verurteilt werden. Schützt also ein abgekartetes nationales Verfahren vor internationaler Verfolgung? Wer entscheidet das?

Wie sind Verfahren wie die Gacaca-Justiz zu bewerten, mit denen Ruanda jetzt versucht, Prozesse gegen rund 110.000 Verdächtige zu führen – eine Zahl, mit der das Justizsystem völlig überfordert ist? Ist das „Junk Justice“, wie der Londoner Sprecher von amnesty international, Christopher Hall, empört in Brüssel erklärte? Was ist die Alternative?

Die Einrichtung des IStGH, das machte die Brüsseler Konferenz deutlich, bringt den internationalen Kampf gegen Straflosigkeit voran. Eine Lösung aller Probleme ist sie nicht.