Flatternde Hosenbeine

Der Abend zur Compilation zum Jubiläum: Der Berliner Techno-Club Tresor schickt James Ruskin und Savvas Ysatis auf „True Spirit“-Tour  ■ Von Nils Michaelis

Die Treppe in den Keller des Tresors erstmals hinabzusteigen kostete Überwindung. Was immer da unten vor sich ging, zunächst einmal schlug einem eine Ganzkörpermassage aus Lärm entgegen. Damals, 1991, wurden gute Technoplatten ein „Brett“ genannt: Möglichst ungehobelt, möglichst kantig mussten sie krachen. Der Haus-DJ mit dem radikalsten Sound hieß Tanith und die Einstellung der Lautstärke seiner Musik nahm er nicht mit den Ohren, sondern mit den Hosenbeinen vor: Wenn die flatterten, war Tanith zufrieden.

Ein selten unwirtlicher Ort und doch wurde der Tresor „mitverantwortlich für die Wiedervereinigung der Jugend von Ost- und West-Berlin“, wie das Szeneorgan Frontpage einmal resümierte. Nur wenige Clubs dürften mit der Aufbruchsphase ins Zeitalter der elektronischen Musik so sehr verbunden sein. Wenn am 17. März 2002 das elfjährige Bestehen des Tresors gefeiert werden konnte, war dies in der schnelllebigen Berliner Clublandschaft ein kleines Wunder.

Dabei sollte sich das Erfolgsrezept der frühen Tage als Überlebensrezept erweisen: Gabba, Drum'n'Bass, Big Beat oder 2Step mochten kommen und gehen – im Tresor blieben Techno und House. Und immer war man bedacht, kreative Entwicklungen zeitnah zu verfolgen, lieber Verwirrung zu stiften statt Routine. Das Tresorgesetz Nummer eins aber war, dass neuartige Musik weniger intellektuell beobachtet, als vielmehr an den Grenzen der körperlichen Belastbarkeit durchlebt zu werden hatte. Tresor-Besitzer Dimitri Hegemann schwärmt: „Gestern, am Freitag, war James Ruskin im Keller, für mich neben Jeff Mills der Meister. Ich bin jetzt 45 und bleibe normalerweise nicht mehr so lange, aber der Abend war die pure Ekstase. Die Leute haben mitunter nur noch geschrien. Stell dir vor, du würdest in einer normalen Disco zehn Minuten einfach herumschreien, man würde einen Krankenwagen rufen. Das hier ist quasi unser Therapiekeller.“

Viel hätte nicht gefehlt und der flache Tresorraum mit den rostüberzogenen Eisenträgern an der Decke und den Schließfachskeletten vor den Wänden wäre nie aus dem Dornröschenschlaf des Kalten Krieges erwacht. An seinen ersten Besuch kann sich Hegemann noch gut erinnern: „Wir tappten mit einer Kerze durch ein völlig leeres Labyrinth. Das einzige was wir vorfanden, war eine alte Reichskriegsflagge. Und es gab da noch ein Problem: vor dem Zugang zum Hauptraum war die verschlossene Tresortür. Sämtliche Versuche, sie zu öffnen, scheiterten.“ Per Radiosendung suchte man nach einem berufserfahrenen Safeknacker. Einer meldete sich sogar, traute sich dann aber doch nicht, so dass erst Hydraulikexperten den Koloss aufzustemmen vermochten.

Doch hinter der Tür rieselte einem nicht nur der Eindruck eingefrorener Geschichte als bröckeliger Wandverputz entgegen. Der griechische Mythos des Hades kam in den Sinn, einer Unterwelt der Grenzerfahrungen und neuer Kategorien der Wahrnehmung. Der Detroiter Techno-DJ Blake Baxter empfand dies als „unvergessliche Lektion in Sachen Untergrundkultur“. Auch Detroit hatte mit dem Niedergang der Autoindustrie Jahrzehnte geschichtlichen Stillstands erlebt. Vielleicht ein Grund für die guten musikalischen Beziehungen, die sich fortan zwischen den Städten entwickelten und die dem Club sein musikalisches Profil gaben. In die Welt hinausgetragen wurde die Musik dann durch das parallel gegründete Label Tresor Records. Statt auf die schnelle Mark setzte man dort auf nachhaltige Entwicklungen, auch als sich Techno derweil vom Untergrundphänomen zur Volksmusik der Love Parade entwickelte. Kommerzieller Gewinn war dem Label kein Selbstzweck, er wurde genutzt, um sperrige Klänge veröffentlichen zu können. Labelarbeit ist auch eine Sache des Vertrauens in den eigenen Geschmack, wie Carola Stoiber, langjährige Geschäftsführerin, erklärt: „Man darf sich nicht zu früh freuen, wenn die Leute auf dem Dancefloor einem neuen Track zujubeln. Das heißt noch lange nicht, dass sie am nächsten Tag die Platte kaufen. Langfristig braucht man echte Fans. “

Die Resonanz auf den Output war mitunter gespalten: Techno-Orthodoxie lautete der Vorwurf. Andere rieben sich verwundert die Augen, wie hier einem vermeintlich ad acta gelegten Genre immer wieder kreative Töne entlockt wurden. Tatsächlich reicht das aktuelle Spektrum des Labels von genretreuen Platten wie James Ruskins hervorragender Point 2 oder des Berliner Nachwuchses um Pacou über die wild-verstörenden Geräuschcollagen des Schotten Dave Tarrida bis zum umjubelten Mix des House-Exzentrikers Herbert.

Anerkennung von offizieller Seite hat es für die Arbeit von Club wie und Label nur wenig gegeben. Wurden am Love Parade-Wochenende Sondergenehmigungen für die Lautstärke beantragt, gaben sich die Behörden meist bürokratisch. Hegemann, der 1982 mit dem Atonal-Festival erstmals als Veranstalter in Erscheinung trat, träumt nunmehr von einer nicht mehr ganz so untergrundigen Location: „Am liebsten ein Theater, wo am Wochenende die Vorstellung ,Hauptstadtclub' läuft. Die Zielgruppe wären Leute von 30 bis 65, die immer noch tanzen gehen wollen, sich aber nicht mehr in den Tresor trauen. In einen solchen Club könnte man auch mal David Bowie einladen und den Ort entsprechend dekorieren. Es darf ruhig ein wenig dekadent zugehen.“ Nach zehn Jahren Tresor soll Berlin nun doch noch sein Pendant zur Disco aller Discos bekommen: dem legendären New Yorker Studio 54.

mit DJ James Ruskin, Savvas Ysatis (live) und DJ Harre: Freitag, 23 Uhr, Phonodrome