Schnattern und Rauschen

Dokumentarfilme kommentieren die Beziehung zwischen Tieren und ihrer Umgebung meist aus Menschensicht. Diese Instanz hat Jacques Perrins „Nomaden der Lüfte“ nun im Ambient aufgelöst

Perrin weiß genau, dass so ein Projekt nur als künstlerisches funktioniert

von CORD RIECHELMANN

„Was haben die in dem Film überhaupt geredet, erinnerst du dich daran noch?“ – „Nein, keine Ahnung. Haben die überhaupt geredet.“ – „Ich glaube schon, sonst hätte am Ende doch nicht der Sänger das traurige Lied gesungen.“

Auch wenn es zwei Ornithologen waren, die, ein paar Tage nachdem sie den Film „Nomaden der Lüfte“ von Jacques Perrin gesehen hatten, so redeten, ist der Dialog symptomatisch. Die Nomaden der Lüfte, die Zugvögel, werden nicht über die Sprache, ob als Beschreibung, Erklärung oder Kommentar, generiert. Perrin lässt die Geräusche der Vögel unberührt und rückt sie damit in den Vordergrund. Er macht dabei auch keinen Unterschied zwischen den Geräuschen, die ein schlagender Flügel produziert, und den Lautäußerungen der Tiere. Ein Ruf in der Luft während des Fluges bleibt so allgemein wie die knarzenden Töne der Gänse, wenn sie rasten oder im Schatten eines Autowracks auslaufendes Kühlwasser trinken. Das Wissen darum, dass Tiere distinkte Laute hervorbringen können, an denen sie sich erkennen und mit denen sie sich verständigen, führt hier zu keinem Widerspruch. Denn die ziehenden Formationen werden nicht individualisiert. Die Kamera ist zwar sehr nah dran, aber nicht so nah, dass es möglich wäre, etwa einzelne Kanadagänse nach Geschlecht, Alter oder Rolle in dem Verband zu identifizieren und ihnen wiedererkennbar über die Filmzeit bestimmte Laute „anzuhängen“.

Alles, was nicht eindeutig einem Individuum zuzuordnen ist, bleibt bisweilen Geräusch. Wobei die Geräusche nichts mit dem aus der Informationstheorie bekannten informationslosen „Rauschen“ zu tun haben. Geräusche transportieren bestimmbare Bedeutung, nur wird danach nicht gefragt. So weit aber ist diese Art Film noch lange nicht. Es ist bisher schon genug Unerhörtes geschehen. Einfach deshalb, weil noch keine Kamera so mit Vögeln geflogen ist, mit denen sie dann auch rastete. Und die Aufmerksamkeit auf die dabei auftretenden Bewegungen und Töne gerichtet zu haben ist das Neue an dem Film und unterscheidet ihn von allen musikalischen Ambient-Ambitionen: Meeresrauschen, Tierstimmen, Umweltgeräusche allgemein werden schon länger aufgenommen und dokumentiert, in künstlerischen Kontexten aus den verschiedensten Gründen eingesetzt. Sie sind schon lange nicht mehr nur im Hintergund zu hören, sondern sie füllen ganze Platten. Nur waren sie doch auch immer irgendwie als Kommentar zu etwas gedacht, war der Kontakt zur Geräuschquelle häufig gestört. „Sämtliche Vorstellungen, die ein Geräusch erwecken mag, kreisen mehr oder weniger um seine Quelle“, schreibt Siegfried Kracauer in der „Theorie des Films“. Perrins Leistung besteht darin, die Geräusche und die Quelle im Auge zu behalten und sie weder zu trennen noch zu stören. Das geschieht selbst dann nicht, wenn lauter werdendes Grollen eine Naturkatastrophe ankündigt. Der Schnee, der die Lawine ins Rollen bringt, bleibt genauso im Bild wie die auf ihm ruhende Gans, die gleich fliehen muss.

Sprache ist in solchen Fällen immer ein ausgezeichnetes Mittel, den Bezug zwischen einem Geräusch und seiner Quelle zu stören und die Aufmerksamkeit umzulenken. Deshalb erzeugt der im Fernsehtierfilm gesprochene Kommentar – ganz gleich auf welchem faktischen oder intellektuellen Niveau – immer einen Text, der vom Tier weg und zum Menschen hinführt. So war es denn auch nur logisch, dass bei der Vorstellung des Films im Kulturfernsehen der ARD der fehlende Text bemängelt wurde. Man wisse irgendwann überhaupt nicht mehr, welchen Vogel man da sehe. Man hätte sich doch mehr Hintergrundinformationen gewünscht, es könne doch nicht der Sinn eines Films sein, dass sich nur noch Ornithologen in ihm auskennen.

Es wird den Mann nicht trösten, aber erstens kennen auch Ornithologen nicht alle Vögel und rätseln im Film wie die ARD; und zweitens und viel wichtiger ist, dass es die so genannten Hintergrundinformationen jeden Tag im Fernsehen gibt. Und noch wichtiger: dass es genau um diese belehrende Kenntnis nicht geht, gar nicht gehen kann. Perrin will die Wanderrouten der Vögel mit der Kamera durchmessen. Er will die Bewegungen der Tiere einer sinnlich anschaulichen Analyse unterziehen. Das ist ein klassisches Experiment aus der Anfangszeit des Films wie der Verhaltensforschung, die nicht umsonst etwa zeitgleich erfunden wurden.

Es ist auch kein Zufall, dass Perrin in jedem Interview Konrad Lorenz erwähnt. Lorenz’ klassische Versuche mit seinen Graugansgösseln, die ihn zum weltberühmten Gänsevater machten, lieferten Perrin den Werkzeugkasten, mit dem er die Vögel für sein Vorhaben präparieren konnte. Und was Perrin genau weiß, auch wenn er es nicht sagt, ist, dass so ein Projekt nur als künstlerisches funktioniert. Kein einziger Wissenschaftsfonds würde einem Wissenschaftler auch nur einen müden Euro für ein solches Vorhaben geben. So was gilt als Rückfall in furchtbarste Zeiten einer nicht technologischen Deskriptionsbiologie. In Deutschland weiß selbst der Vorsitzende des BDI mit seinem sprechenden Namen, dass die Beobachtung von Regenwürmern Kinder nicht für den Weltmarkt fit macht.

Warum aber bekommt man in Frankreich für so was Geld? Das hat mehrere Gründe, einer aber ist, dass Konrad Lorenz und die von ihm vertretene Richtung der Verhaltensforschung dort ein Teil der Kultur geworden ist. Das heißt nicht, dass man den politisch belasteten Nobelpreisträger unkritisch zur Kenntnis nahm – eine der bis heute besten Kritiken der Lorenz’schen Begriffsbildung findet man in Deleuze/Guattaris „Tausend Plateaus“ – es heißt nur, das man ihn kennt und mit ihm denkt. Und damit auch um seine Macken weiß. Was die Kritik des Mannes von der ARD noch schlechter aussehen lässt. Denn die aus Kennerschaft gezogene Autoritätsgeste, die Lorenz beherrschte, vermeidet der Film. Perrin baut eben keine Kenntnishürden auf, die nur den Zuschauer zulassen, der vorher die Arterkennungseingangsprüfung bestanden hat. „Nomaden der Lüfte“ kann jeder ohne Vorwissen mit Freude sehen, wenn er es denn will.

Alles um den Film ist aber doch nicht gut. An „Nomaden der Lüfte“ mit seinen jahrelangen Vorbereitungen haben unzählige Experten mitgewirkt. Das ist natürlich. Denn kein Einzelner kennt 40 Vogelarten mit ihren Lebensgewohnheiten und Zugrichtungen so gut, dass er sie aufziehen und ans gebotene Ziel führen konnte. Doch diese Arbeit im Hintergrund bleibt aber mit Ausnahme der Erwähnung im ellenlangen Abspann ungenannt. Was liegt da näher, als sie in einem Buch mit dem Namen des Films zu Wort kommen zu lassen. Das geschah denn auch.

Das Buch verhält sich zum Film, wie sich „Das Prinzip Hoffnung“ bei Ernst Bloch zum „Geist der Utopie“ verhält. Schöne, wunderschöne Bilder, fast ein Bilderbuch der Utopie. Nur eben um die Härten beraubt, die der Film hat und im gemessenen Abstand zeigt. Die ewige Wachsamkeit, die der Zug mit sich bringt, wie das Abgeschossen- und Gefressenwerden. Alles was der Film vermeidet, kommt im Buch im Text dann doch vor. Aus nestbauenden Vögeln werden „Architekten und Baumeister“. Rekorde werden gemeldet, wo doch der Film den Eindruck gar nicht erst aufkommen ließ, das Gruppenleben sei ein dauerndes Sich-Messen, Hauen und Stechen.

Aber kaum hat man’s geschrieben, kommt man sich kleinlich vor. Warum denn auch nicht, wenn’s der Wahrheitsfindung dient. Die Texte reden ja schließlich keinen Unsinn. Was soll’s, ein gutes Buch auch. Wie sollte man sonst eine Vorstellung bekommen von der Länge der Strecken, die sie fliegen, wenn nicht von den tollen Landkarten mit den eingezeichneten Flugrouten? Das kann einem ein Film nicht vor Augen führen. Außerdem bleibt es ein Verdienst, Text und Film getrennt zu haben.

Jacques Perrin: „Nomaden der Lüfte“. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2002, 300 Seiten, 54 €ĽCord Riechelmann ist Biologe und Mitarbeiter der Berliner Seiten der FAZ