Per Ausweis zur Hoffnung

aus Klausenburg KENO VERSECK

Emese Péter verwaltet das kleine Elend der Geschichte. In einem nackten Büro, an einem nackten Schreibtisch, jeden Tag von acht bis zwölf, sechs Tage in der Woche, Montag und Donnerstag auch bis abends. Sie ist eine junge, zierliche Frau und empfängt sehr höflich die Antragsteller, die zu ihr kommen. Einige Leute flüstern nur, andere zögern, sich hinzusetzen, manche sehen in ihren abgewetzten, altmodischen Mänteln aus wie auf Bildern von Vertriebenen.

An diesem Tag ist der Wartesaal voll. Emese Péter und ihre fünf Kolleginnen essen die mitgebrachten Brote schnell zwischen zwei Antragstellern und haben keine Zeit, sich die Geschichten der Alten anzuhören. Darüber, wie sie keinen Fuß aus dem Dorf setzen mussten, um plötzlich in einem neuen Land aufzuwachen, wie sie die ersten Kinderjahre in Ungarn erlebten, wie Siebenbürgen zu Rumänien kam und hinter wievielen Grenzen am Ende die Verwandtschaft zerstreut war.

Der Schlosser István Kovács und seine Frau Erzsébet, die Frührentnerin ist, haben für ihren Antrag auf einen Ungarn-Ausweis einen Auszug aus dem Register der ungarisch-reformierten Kirche mitgebracht. Sie sitzen ein wenig verunsichert da und füllen die Formulare aus mit den 21 Zeilen für all die doppelten Namen. István Kovács heißt wahlweise Stefan Covaci, weil das so in seinem rumänischen Ausweis steht, Erzsébet heißt Elisabeta und der Wohnort Klausenburg ist auf rumänisch Cluj und auf ungarisch Kolozsvár. Die Tochter Gyöngyvér schreibt einfach nur beide Male Gyöngyvér Kovács und nicht Lacramioara Covaci, weil die rumänische Polizei die Vornamen nicht mehr zwangsübersetzt seit dem Sturz des Diktators Ceaușescu im Dezember 1989. Emese Péter überfliegt den Kirchenbeleg, die Formulare, dann fragt sie, wo drüben die Familie ihren Ungarn-Ausweis abholen wird. „Debrecen“, sagt Erzsébet Kovács, „das ist das Kürzeste und Billigste von hier aus.“

Drüben ist Ungarn. Das Büro, in dem Emese Péter arbeitet und in dem Familie Kovács ihren Antrag ausgefüllt hat, ist das Klausenburger Büro des Verbandes der ungarischen Minderheit in Rumänien, genauer: Siebenbürgen. Siebenbürgen mit seiner Metropole Klausenburg gehörte bis 1918 zu Ungarn, das nach dem Ersten Weltkrieg zwei Drittel seines Staatsgebietes verlor. Später fiel es dann an Rumänien, andere Teile des ungarischen Staatsgebietes an Österreich, Serbien, die heutige Slowakei und die heutige Ukraine.

Für die ungarischen Minderheiten in diesen Gebieten, darunter die mit 1,6 Millionen Ungarn größte Minderheit in Siebenbürgen, hat die nationalkonservative Budapester Regierung letztes Jahr das so genannte Statusgesetz verabschiedet, durch das die Auslandsungarn in den Genuss bestimmter Rechte kommen sollen, darunter vor allem eine befristete Arbeitsgenehmigung, aber auch ermäßigter Transport in Ungarn, freier Bibliotheken- und Museenbesuch, Vergünstigungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Um diese Rechte in Anspruch nehmen zu können, müssen die Betreffenden den so genannten Ungarn-Ausweis beantragen.

Zu Jahresanfang trat das Gesetz in Kraft, seit Februar haben in Siebenbürgen etwa 120.000 Menschen den Ausweis beantragt. Das Verfahren: Die Antragsteller füllen meist in einem lokalen Büro des Demokratischen Verbandes der Ungarn in Rumänien (RMDSZ) die Gesuche aus. Ihre Zugehörigkeit zur ungarischen Minderheit müssen sie nachweisen, entweder durch die RMDSZ-Mitgliedschaft, einen Beleg über den Besuch einer ungarischen Schule, einen Auszug aus dem Register einer ungarischen Kirche in Rumänien oder durch die Mitgliedschaft in einer ungarischen Vereinigung Rumäniens wie etwa dem Kultur- oder dem Unternehmerverband. Die Unterlagen der Antragsteller werden an eine spezielle Statusgesetz-Abteilung des ungarischen Innenministeriums geschickt, die binnen drei Monaten über die Vergabe des Ungarn-Ausweises entscheidet. Den Ausweis selbst müssen die Antragsteller persönlich in Ungarn abholen.

Emese Péter findet weder an dem Gesetz noch an dem Verfahren zur Feststellung des Ungarntums etwas Zweifelhaftes. Sie hat den Ungarn-Ausweis längst selbst beantragt. Nur die Bürokratie von drüben ermüdet sie. Oft, sagt sie, schicken „die Ungarn“ Anträge zum Neuausfüllen zurück, weil die Namen angeblich falsch übersetzt seien oder weil die alten Ungarinnen auf den Passbildern Kopftücher tragen, was in Ungarn nicht erlaubt ist. Am Anfang, sagt sie, habe sie einmal über dem Stapel der zurückgeschickten Anträge angefangen zu weinen.

Die 28-Jährige kommt aus dem Szeklerland, einer größtenteils von Ungarn bewohnten Region in Zentralrumänien. Sie hat in Klausenburg ungarische Literatur und Ethnographie studiert. Sie erinnert sich daran, dass es im Szeklerland in den Siebzigerjahren in Mode kam, dass ungarische Eltern ihren Kindern Namen gaben, die in offiziellen Dokumenten nicht zwangsrumänisiert werden konnten. Weshalb sie auch Emese heißt. Sie hat keine wirklich schlechten Erlebnisse gehabt mit Rumänen, aber sie fühlt sich trotzdem nicht wohl in diesem Land, in dem die Ungarn oft misstrauisch als fünfte Kolonne angesehen werden. Eines Tages vielleicht, wenn Ungarn die Einbürgerung erleichtert, wird sie auswandern.

Wozu ein Ungarn-Ausweis gesetzlich berechtigt, wissen die meisten, die im Klausenburger RMDSZ-Büro einen Antrag stellen, nicht genau. Ebenso wenig wissen sie, dass sie die neuen Rechte – wie etwa eine Arbeitsgenehmigung – noch gar nicht in Anspruch nehmen können, weil die Budapester Regierung bisher keine Ausführungsbestimmungen zum Statusgesetz erarbeitet hat. „Aber vielleicht wird es durch den Ausweis in Rumänien besser“, sagt eine Frau, die in der Klausenburger Ursus-Bierbrauerei arbeitet und gerade mit ihrem Mann und ihrer Tochter einen Antrag gestellt hat. „Vielleicht wird Europa nun auf uns aufmerksam.“

Die meisten Menschen wollen einfach nur ermäßigt zu ihren Verwandten reisen und über viel mehr möchte kaum jemand reden. Keine Namen, keine Einzelheiten. Die Angst ist so groß wie unbegründet. Alte Menschen fürchten, ihren Rentenanspruch in Rumänien zu verlieren, wenn herauskommt, dass sie den Ungarn-Ausweis beantragen. Auch ein junger Mann, der mit seinen Geschwistern und seiner Familie da ist, will keine Auskunft geben. „Vielleicht in einer besseren Zukunft.“

Draußen am Gebäude hängt eine schmutzige, verblasste rumänische Fahne. Vor dem Gebäude schlendern schwarz gekleidete Wächter auf und ab, weil der nationalistische Klausenburger Bürgermeister Gheorghe Funar, der gleichzeitig stellvertretender Vorsitzende der Großrumänien-Partei ist, gedroht hat, wer den Ungarn-Ausweis beantrage, werde aus der Stadt geworfen. Und weil seine Anhänger gedroht haben, das RMDSZ-Büro zu belagern und die Scheiben einzuschlagen.

Ein Viertel der 330.000 Klausenburger sind Ungarn, deshalb hätte die Stadt das gesetzliche Recht auf zweisprachige Ortsschilder. Der Bürgermeister hat stattdessen große gelbe Tafeln an den Stadteinfahrten aufstellen lassen, worauf steht, dass die offizielle Landessprache gemäß Artikel 16 der Verfassung Rumänisch ist. Überall in der Stadt hängen die blau-gelb-roten rumänischen Fahnen, an Masten, die in den Nationalfarben gestrichen sind. So wie auch die Straßenpoller blau-gelb-rot gestrichen sind und die Parkbänke und die Mülltonnen und die Lampen an den Lichterketten, weshalb die Stadt wirkt wie ein großer, eintöniger Jahrmarkt.

István und Erzsébet Kovács haben keine Angst zu reden. Die beiden Eheleute, 53 und 46, wohnen mit ihrer Tochter Gyöngyvér in einem alten, heruntergekommenen Wohnblock im Stalin-Barock, in zwei dunklen, engen Zimmern. István Kovács erzählt davon, dass er froh ist, in der Werkstatt eines Klausenburger Krankenhauses noch als Handwerker arbeiten zu dürfen, trotz seiner Nierenprobleme. Erzsébet Kovács, die früher Näherin war und wegen ihrer Herzkrankheit vor Jahren frühverrentet wurde, sagt, dank des Ungarn-Ausweises und der Fahrtvergünstigung könne sie vielleicht ihre Schwester in Westungarn öfter besuchen. Ansonsten gebe es keine Probleme zwischen Ungarn und Rumänen. Das hört sich aufrichtig überzeugt an, als habe sie sich noch nie gefragt, ob es normal sei, eine ganze Stadt in den Nationalfarben anzustreichen.

Die 15-jährige Tochter Gyöngyvér geht auf ein ungarisches Gymnasium in Klausenburg. In ihrem Zimmer hängen Bilder westlicher Schlagersternchen. Sie ist ein mageres, zerbrechlich wirkendes Mädchen. Vielleicht, sagt sie leise, hätte sie mit dem Ungarn-Ausweis eine Möglichkeit, drüben zu studieren. Gyöngyvér lächelt ein bisschen und schwärmt von Budapest. Es klingt nicht, als wenn sie von Ungarn schwärmte, sondern einfach von einer schönen Stadt.