„Ritalin darf nur Notbremse sein“

■ Viel zu oft stellen Kinderärzte die Diagnose „hyperaktiv“, sagt der Bremer Verein Diabrem. Statt Psychopharmaka empfiehlt er Therapie. Außerdem: Nicht immer seien die Kinder das Problem

160.000 Kinder bundesweit gelten als Zappelphilippe: Sie sind extrem unruhig, können sich nicht konzentrieren und werden schnell aggressiv. Ärzte diagnostizieren bei ihnen das sogenannten Aufmerksamkeits-Defizit-und-Hyper-aktivitäts-Syndrom (ADHS) – und verschreiben in den meisten Fällen Ritalin. Ein Fehler, findet Anna-Dorothea Brockmann, Professorin am Sozialpädagogischen Institut der Bremer Universität. Denn das Medikament steht im Verdacht, die Hirnentwicklung zu behindern und das frühzeitige Auftreten der Schüttellähmung Parkinson zu begünstigen.

Zusammen mit Gleichgesinnten gründete die Soziologin und Kunsttherapeutin Brockmann vor vier Monaten den Verein Diabrem. Der will Eltern Beratung anbieten und das Augenmerk weg vom Symptom „Hyperaktivität“ wieder hin zu den Ursachen der psychischen Störung lenken. „Wir haben die entschiedene Befürchtung, dass über die Medikamentengabe Beziehungsprobleme gelöst werden sollen“, sagt Brockmann: „Hyperaktive Kinder brauchen in der Regel kein Ritalin, sondern schlicht Entwicklungsförderung.“

Dabei stellt die Soziologin, die im Schwerpunkt Gesundheitsförderung forscht, die durchschlagende Wirkung des Ritalins nicht in Frage: „Die Kinder werden tatsächlich ruhiger und konzentrierter.“ Trotzdem hält sie das massenhafte Verschreiben des Psychopharmakon für gefährlich und bisweilen sogar für kontraproduktiv: „Da verkümmert die Sinneswahrnehmung.“ Über die Langzeitfolgen des Medikaments sei zudem so gut wie nichts bekannt. Brockmanns Mitstreiterin Waltraud Doering betont: „Ritalin selbst hat keine heilende Wirkung – es unterdrückt nur die Symptome.“

Doering, die ein eigenes Therapie-Institut betreibt, macht neben einer möglicherweise angeborenen „Reizoffenheit“ vor allem das Umfeld, in dem das Kind aufwächst, verantwortlich für das „Zappelphilipp-Syndrom“. Kindergarten, Elternhaus und Schulen müssten dem Kind einen Rahmen setzen, ohne es dabei so sehr einzuengen, dass es keine Möglichkeit mehr habe, aktiv zu werden. Bei der Behandlung von ADHS-Fällen müsse man daher insbesondere beobachten, wie das Kind mit seiner Umwelt interagiere. „Zu vielen Therapeuten geht es aber immer nur um das Verhalten des Kindes allein“, klagt Doering.

Etwa 20 ADHS-Kinder hat die Therapeutin derzeit in Behandlung. Wichtigste Utensilien sind dabei die unzähligen bunten Kissen, Polster und Matratzen in den verschiedenen Toberäumen. „Mit Bewegung können die Kinder den nötigen Halt und die nötige Freiheit entdecken“, erklärt Doering. Die Motorik sei ganz wichtig, damit sich die unterschiedlichen Gehirnbereiche richtig entwickelten. „Dann haben es die Kinder gar nicht mehr nötig, ständig nach Reizen zu suchen und entsprechend in der Gegend herumzuzappeln und wenig aufmerksam zu sein“, beschreibt Doering das Ziel der Therapie. Auch wenn sie kein Fan von Ritalin ist – völlig verbannen will Doering das konzentrationsfördernde Medikament nicht. „Es darf aber nur Notbremse sein“, stellt sie klar.

Mit einem Fragebogen für Eltern von ADHS-Kindern will der Verein Diabrem jetzt die Arbeit der Ärzte unter die Lupe nehmen. „Wir haben aus Berichten von Eltern den Eindruck gewonnen, dass die Diagnose ADHS häufig vorschnell getroffen und dann praktisch automatisch Ritalin verschrieben wird“, sagt Doering. Ein 20-minütiges Gespräch beim Kinderarzt sei aber bei weitem nicht ausreichend für eine sachgerechte Diagnose. Die Kinder müssten vielmehr über mehrere Monate hinweg beobachtet werden, bevor sie als „hyperaktiv“ eingestuft würden. Selbst wenn dann Ritalin verschrieben werde, müsse das immer von therapeutischen Maßnahmen begleitet werden. „Die reichen meistens auch alleine aus“, ist Doering überzeugt. hoi

Weitere Informationen gibt es bei Diabrem, Tel.: 16 30 18 19.