Mach keinen Krieg

Es ging um die Liebe, um nichts als die wahre Liebe, um L.O.V.E.: Mary J. Blige, Fachfrau für die Stürme des Gefühls, verbreitete in der Columbiahalle eine Eleganz zweiten Grades, fiel immer mal wieder auf die Knie und umarmte permanent ihr Publikum

von TOBIAS RAPP

Im Prinzip ist ja alles ganz einfach: Das, was der Welt fehlt, ist Liebe. So sieht es aus, das ist lautere Wahrheit. Deshalb gibt es Kriege, deshalb sieht man blutüberströmte Menschen im Fernsehen, deshalb gibt es kaputte Beziehungen. Was der Welt fehlt ist Liebe, nicht zuletzt deshalb, weil wir Menschen uns verhalten wie Igel in der Kälte: Wir drängeln uns aneinander, um uns ein bisschen zu wärmen, und je näher wir uns kommen, desto mehr tun wir uns weh.

Liebe also, Love, oder „L.O.V.E“ wie das erste Stück lautete, das die Soulsängerin Mary J. Blige bei ihrem Konzert in der Columbiahalle am vergangenen Freitag spielte. Nun ist Mary J. Blige Fachfrau in Sachen Liebe und Leiden, und wenn ihre Karriere nach dem Muster verlaufen ist, erst frech hereinzuplatzen, großen Erfolg zu haben, dann von Männern und dem restlichen Leben schwerstens gebeutelt zu werden, um schließlich zu sich selbst finden und allem Negativen abzuschwören, dann war ihr Konzert nach genau diesem Muster aufgebaut.

Mit „L.O.V.E“ fing es an und mit Liebe ging es weiter: Der erste Teil handelte von den Stürmen des Gefühls und führte dementsprechend durch die Uptempo-Regionen von Mary J. Bliges Werk. Wer einen divenartigen Auftritt erwartet hatte, sah sich getäuscht. Sie trug Jeans und T-Shirt. Wenn es so etwas wie Eleganz gab, dann eine Eleganz zweiten Grades, etwa die Art wie sie die Bewegungen ihrer Tänzerinnen und Tänzer aufnahm und variierte. Das war immer einen Hauch neben der Choreografie, immer ein Schlenker zu viel oder zu wenig, als wollte sie sagen, ich könnte, aber darum geht es nicht. Eine zurückhaltende Eleganz, die auch mit ihrer Art zu singen korrespondierte. Wo eine Stimmakrobatin wie Whitney Houston durch schiere Virtuosität geglänzt hätte, sang Mary J. Blige synkopisch versetzt einen Hauch an der eigentlichen Gesangsspur vorbei.

Dann verlosch das Licht, und der zweite Teil begann: Liebe und Leid. Das, was andere Menschen Welt nennen – oder Igel einvon winterlichen Temperaturen gefrorenes Unterholz –, nennt Mary J. Blige Ghetto: die Universalchiffre für einen sozialen Raum, in dem Gemeinheit die Lebensumstände bestimmt, weil jeder sich selbst der Nächste ist. Und war der erste Teil schon mitreißend, so trieben einem spätestens hier nach jedem Stück die Tränen in die Augen, und man sank seinem Hintermann in die Arme, um „fang mich auf“ zu murmeln.

Ob „Children Of The Ghetto“, ein Stück, das davon handelt, in eben jenem Ghetto aufzuwachsen, oder „Your Child“, ein Stück, das sich darum dreht, dass ihr Lebensgefährte ihre beste Freundin geschwängert hat, nun aber alles abstreitet, während sie jetzt das Baby in den Armen hält und feststellen muss, dass es seine Augen hat: Mary J. Blige zog die Songs in die Länge, hängte wilde Scatvariationen an, und fiel Mal für Mal gegen Ende auf die Knie, um Ansprachen anzuschließen, die sie dann wieder abbrach, vielleicht weil es sie selbst so ergriff, vielleicht weil sie sich nicht sicher war, ob das Publikum sie überhaupt verstand, vielleicht aber auch nur, weil sie das Gefühl hatte, jeden Abend zu sagen, was sie auf dem Herzen habe, könnte die Wichtigkeit dessen, was sie eigentlich sagen wolle, profanisieren.

Und da gab es eine ganze Menge: Dass Ghetto nicht nur ein armer Stadtteil sei, sondern ein state of mind. Dass man seine Kinder gut behandeln solle, sie nie schlagen dürfe oder ihnen sagen, dass sie dumm oder hässlich seien, so etwas pflanze giftige Samen in deren Seele. Dass jede Form von Krieg sofort aufhören müsse. Dass Väter zu ihren Kindern stehen sollten. Und dass Kinder niemandem Glauben schenken sollten, der ihnen etwas erzähle, außer ihren Eltern, denen es zu gehorchen gelte. Aber eigentlich ging es um etwas anderes, um eine viel weniger inhaltliche Form von Liebe: Eigentlich handelte das ganze Konzert von der Liebesbeziehung zwischen Mary J. Blige und ihrem Publikum.

Darauf lief es hinaus, das war der dritte Teil des Konzerts. So oft und ergriffen wie sie sich für den Jubel bedankte, so sehr sie immer wieder betonte, dass sie alles was sie sei, nur sein könne, weil es eben jenes Publikum gäbe (das es ja auch nur gibt, weil es Mary J. Blige gibt) – das war so weit jenseits der Pose, wie es jemandem möglich ist, der sich Abend für Abend diesem Fluss von Liebesbezeugungen stellen muss.

Liebe dich selbst, und du wirst geliebt. Manchmal muss man es sich einfach machen, um zum Licht der Erkenntnis zu gelangen.