: Nachtwanderung durchs Ich
Auch eine einzige Schauspielerin kann ein Subjekt zerlegen: Laurent Chétouane inszeniert Sarah Kanes „4.48 Psychose“ als Monolog eines Ichs, das große Löcher in die Sehnsucht nach Liebe starrt
von MORTEN KANSTEINER
Das Subjekt löst sich einfach auf: „sieh mich verschwinden“, heißt es in den letzten Zeilen von Sarah Kanes „4.48 Psychose“. Dann ist das Ich weg. Ein Ende, das sich seit langem ankündigte. Schon in „Gesäubert“, Kanes drittem Stück, gerieten die Grenzen zwischen den Individuen ins Schwimmen: Figuren tauschten Kleidung und Körperteile. In „Gier“ gab es statt Personen vier ineinander verwobene Stimmen.
„4.48 Psychose“ schließlich, Kanes nachgelassenes Stück, besteht aus Fragmenten, in denen sich ein vage umrissenes Ich in alle Richtungen entäußert. In diversen Sprachmodi: mal lyrisch, mal dialogisch, in der Form eines Liebesbriefs oder auch einer apokalyptischen Verkündigung. Wenn dieser Text auf die Bühne soll, ist viel zu entscheiden. Vor allem: Wie kann die Auflösung des Subjekts im Reich der konkreten Körper aussehen? Bisher lautete die Antwort: Verschiedene Schauspieler teilen sich die Rede. Die Inszenierungen von Thirza Bruncken und Falk Richter verfuhren da wie die Londoner Uraufführung von James Macdonald. Eine zweite Serie von Produktionen geht einen anderen Weg: In Frankfurt bereitet Wanda Golonka ihre Inszenierung nur mit einer Schauspielerin, mit Marina Galic vor; in Paris wird Claude Régy das Stück im Oktober als Soloabend für Isabelle Huppert herausbringen; und am Deutschen Schauspielhaus hatte „4.48 Psychose“ als Monolog unter der Regie von Laurent Chétouane Premiere.
Wenn Ursula Doll in Hamburg den kahlen Malersaal betritt, erscheint zunächst schlicht ein Mensch. Fragil, ja, aber doch einzig und klar gegen die Umgebung abgegrenzt: Ein klassisches Individuum, möchte man meinen. Doch wenn – nach geraumer Zeit – Sprache und Bewegung anheben, bilden sie keineswegs das Verhalten eines Subjekts ab. Vielmehr ist die Schauspielerin dafür da, einen Text zu reproduzieren – nicht mehr und nicht weniger. Sie spricht prononciert und bewegt sich wenig, hebt mal Augenbrauen und herabhängende Hände ein Stück an und schreitet klare Bahnen ab.
Ihre Gänge führen sie quer durch das fragmentierte Ich. Statt es zu verinnerlichen, geht Ursula Doll darin herum. Sie schaut an Wänden hoch und liest dort Trauer. Sie starrt Löcher in die Sehnsucht nach Liebe. Mehrmals gelangt sie dicht vor die Betonwände des Malersaals. Dann empfängt sie Signale von außerhalb des bedrängten Bewusstseins – die Fragen eines Therapeuten oder die Imperative zeitgenössischen Selbstmanagements: „ein Ziel erreichen und Ehrgeiz entwickeln“. Das Vorgefundene auszusprechen, ist keine leichte Aufgabe. Denn auch die Sprache wird in der schwärzesten Stunde der Nacht vom Verschwinden ergriffen: „Nach 4.48 Uhr ist alles gesagt.“ Manchmal bewegt Doll die Worte wie bittere Pillen– oder Hoffmannsthals modrige Pilze – im Mund. In anderen Momenten malt sie den Text üppig aus.
Dann hebt ein Vibrato an, dann gähnen grausig die Umlaute in „einem Käfig der Tränen“, und es sticht das „st“ in „Fühlst du gar nichts?“. Das Ergebnis klingt fatal nach abgegriffenem Expressionismus. Die kunstvolle Konstruktion beginnt einer gekünstelten Mimesis zu ähneln. Diese Anmutung hat ihren Ursprung allerdings schon im Stück. Denn es schreibt einige dick kajalgeränderte Sätze vor. Von der Art: „Schwarzer Schnee fällt“ oder „Ich habe dich immer geliebt / selbst dann noch als ich dich gehasst habe“. Die Übersetzung von Durs Grünbein macht die Sache nicht besser. Sie verschraubt gerne mal einen geradlinigen Satz zu einer fürchterlich poetischen Inversion. Gleichzeitig bietet das Stück lakonische Passagen und sarkastische Pointen. Vorübergehend könnte die Textreproduktion durchaus ins Tänzeln geraten. Die Hamburger Inszenierung hingegen insistiert auf dem schweren Voranschreiten Richtung Verschwinden.
Auf einem unsichtbaren Quadrat zeichnet Ursula Doll mit ihren Gängen die Struktur des Stücks ein: Nach eineinhalb Stunden bzw. zwei Diagonalen, einer ganzen und zwei halben Umrundungen hat sie alle Fragmente absolviert und kommt im Zentrum zum Stehen. Da, wo das Außen am fernsten ist, spricht sie die letzten Worte. Noch für kurze Zeit kann sich die Sprache in der einsamen Mitte des Bewusstseins halten, bevor dieses sich in Dunkel auflöst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen