Kette des Lebens

Die Dauer der Dinge: Der usbekische Autor Uchqun Nazarov las bei den zentralasiatischen Literaturtagen im HdKdW

Uchqun Nazarov, usbekischer Schriftsteller, entschuldigt sich, bevor er einen Ausschnitt aus seinem Buch liest. Er sei sehr aufgeregt und wisse nicht, ob diese Lesung ein großes Glück für ihn sei oder eine sehr schwere Prüfung. Nach der usbekischen Hörprobe beobachtet Nazarov schweigend, wie er auf Deutsch gelesen und kommentiert wird. Er fühle sich in so einer Situation an Sowjetzeiten zurückerinnert. Auch damals habe man nie gewusst, ob ein Text durchkommen würde oder nicht: die Autoren seien immer einem Herzinfarkt nahe gewesen.

Der 1934 geborene Nazarov ist einer der vier zentralasiatischen Schriftsteller, die sich in einer Lesungsreihe im Haus der Kulturen der Welt vorstellen. Nazarov hat Theater studiert, ging danach zum Film und arbeitete in usbekischen Filmeinrichtungen. Seine erste Erzählung hieß „Die Leute“ und erschien 1960. Bald darauf wurde sie für den Druck in einer Moskauer Literaturzeitschrift aus dem Usbekischen ins Russische übertragen. Mit der Niederschrift seines Romans „Das Jahr des Skorpions“, eben auf Deutsch im Dagyeli-Verlag erschienen, begann Nazarov kurz vor Beginn der Perestroika.

Eine unübersehbar dichte Kette provinzieller Vertraulichkeiten funktioniert und arbeitet in diesem in Taschkent Anfang der Vierzigerjahre angesiedelten Roman. Es gibt die an ihr Beteiligten und den großen Rest. Murod Khoja ist ein Hauptbeteiligter und Initiator. Viele der in dem Roman verstreuten Einzelschicksale sind sich schon einmal als Bittsteller in seinen Vorzimmern begegnet. Khoja ist reich, hält die religiösen Bräuche ein, steht gut mit der Partei, hat Leute an den wichtigsten Kanälen sitzen. Die Zukunft sieht rosig aus.

Aber das Familiensystem beginnt sich zu lockern. Seine Tochter verliebt sich in einen mittellosen jungen Mann, der auf Khojas Geheiß bald darauf zum Verheizen an die Front geschickt wird. Auch sein Sohn macht ihm bald Schwierigkeiten. Er möchte aus eigenem Willen an die Front – was Khoja verhindert, indem er ihm Plattfüße attestieren lässt. Später, als sich auch der Sohn in eine vermeintlich „schlechte Partie“ verliebt und sich als abtrünnig erweist, wird der Bescheid wieder rückgängig gemacht und der Sohn an die Front geschickt.

Ruhepole zwischen den vielen Dialogen und die in sie hineinmontierten Beobachtungssequenzen in Nazarovs Roman sind längere Zimmerbeschreibungen, in denen kurz auch ein ganz anderes Leben möglich scheint. Zufluchtsorte: Die Dinge haben hier noch ihren Platz, sie garantieren so etwas wie Dauer und Bestand, während die Menschen in der Ordnung auf Besucherstatus herabgesetzt sind.

Die meisten von Nazarovs Hauptfiguren sind Frauen. Die Missstände einer Gesellschaft, sagt er, seien daran zu erkennen, wie mit Frauen umgegangen werde. In Oynisa beschreibt er eine Frau, die mehrmals ihr Zelt neu aufschlagen muss. Am Ende des Romans verfehlt das Glück sie haarscharf. Daran hat auch Khoja wieder mitgestrickt. Er selbst wird an einer banalen Blutvergiftung sterben. Spätestens dann bleiben auch all die Gekauften zurück – und der Roman läuft ohne Ende aus.

Die anderen Schriftsteller aus Zentralasien sind aus einer jüngeren Generation. Ihre Texte sind mehr in der Gegenwart verortet, die sie besprechen und problematisieren. Das Verhältnis zu den Vorfahren ist Thema, wie auch das eigene, oft selbstironisch beleuchtete Schreiben. In der Erzählung Sherboto Tokombaevs trägt ein zentralasiatischer Schriftstellerkongress indirekt zur Selbstgewissheit bei. Dass diese für Tokombaev aus Kirgisien, Didar Amantay aus Kasachstan und Shamshad Abdullaev aus Usebekistan noch abseitig und einsam ist, zeigen ihre Texte. MATTHIAS ECHTERHAGEN

Heute liest Sherboto Tokombaev um 19 Uhr im HdKdW, John-Foster-Dulles-Allee 10, Tiergarten. Am 23. 4., 19 Uhr Didar Amantay, Do, 25. 4., 19 Uhr, Shamshad Abdullaev