KRITIK AN ISRAELS POLITIK MUSS KEIN ANTISEMITISMUS SEIN
: Ein Staat wie jeder andere

Darf man Solidarität mit den unter der israelischen Besatzung leidenden Palästinensern äußern, ohne als Antisemit zu gelten? Die Frage ist eigentlich unanständig. Wer Ariel Scharons irrsinnige Politik der Konfrontation kritisiert, braucht sich nicht gegen den Vorwurf des Antisemitismus zu rechtfertigen. Jüdische Intellektuelle haben sich oft gegen eine Gleichstellung israelischer Staatspolitik mit jüdischen Standpunkten und Meinungen gewehrt. Und dies zu Recht. Juden leben fast überall auf der Welt. Auch vor dem Einmarsch der israelischen Armee in die palästinensischen Gebiete gab es Antisemiten, und es wird sie auch in Zukunft geben. Denn Antisemitismus ist eine Ideologie, die keine rationalen Argumente braucht.

Wasser auf die Mühlen der Antisemiten allerdings treibt eine Haltung, die vor allem in der deutschen Öffentlichkeit tonangebend ist. Sie gründet auf Doppelmoral und dem ritualisierten Schuldkomplex der Deutschen, setzt Judentum und Israel gleich und gesteht dem Staat Israel für alle Zeiten das Recht einer Sonderbehandlung in der Weltgemeinschaft zu. Aber Israel ist ein Staat wie jeder andere und hat als solcher das Recht, sich gegen Terrorattacken zu wehren. Natürlich auch mit kriegerischen Mitteln. Kein Recht hat Israel, diesen Krieg so zu führen, dass Massaker an der Zivilbevölkerung verübt werden. Und schon gar kein Recht hat dieser Staat, sich nicht an die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates zu halten.

Die israelische Besatzungspolitik der letzten Jahrzehnte hat zu einer ungeheuren Verrohung auf palästinensischer Seite geführt. Dafür zahlt Israel heute einen hohen Preis. Denn die Verrohung des Gegners führt auch zur Brutalisierung der eigenen Gesellschaft. Es ist tragisch, dass die meisten jüdischen Stimmen in Deutschland das heute nicht sehen wollen oder sich doch zumindest nicht oder nicht mehr äußern.

Eine Politik der Doppelzüngigkeit, die den Irak wegen der Besetzung Kuwaits verteufelt, Israel aber trotz jahrzehntelanger Besatzung Narrenfreiheit gewährt, kann auf Dauer nicht gut gehen. Sie erodiert die Interessen des Westens im Nahen Osten und stärkt jene extremistischen Kräfte, die im Namen ihrer Religion Verbrechen begehen. Sollte Scharons Politik obsiegen, dann werden die USA und ihre Verbündeten den Kampf gegen den Terror unaufhaltbar verlieren – denn sie werden dann nicht mehr nur gegen wenige extremistische Zellen in der islamischen Welt kämpfen müssen, sondern gegen die Mehrheit der Muslime in aller Welt. Dies wäre ein aussichtsloser Kampf. ZAFER ȘENOÇAK

Der Autor stammt aus der Türkei und lebt in Berlin