Einladung zum Fischkonzert

Er war Stalinist und Taoist, Katholik und Dandy. Und Nobelpreisträger. Am Dienstag wäre der isländische Nationaldichter Halldór Laxness hundert geworden

von DIRK SCHÜNEMANN

„Ein wettergegerbter Mann, von weit her gekommen, sitzt unter der Lampe am Türpfosten und liest aus einem Buch vor oder erzählt eine Geschichte. Mein Großvater hat an einem Dachsparren ein Netz aufgehängt und knüpft lautlos eine Masche nach der anderen; der Bettpfosten knarrt, wenn er fest anzieht; Runki sitzt da, den Finger im zahnlosen Mund wie ein Säugling, und seine Augen tränen; aber nicht etwa, weil er weint, sondern, weil er so lange auf See war, dass der Salzbrand nicht mehr aus seinen Augenwinkeln verschwindet; andere sitzen auf den Betten und sonstigen Sitzgelegenheiten; auf der untersten Stufe der Treppe sitzt Großmutter und strickt, sie erwartet noch weitere Gäste.“

Man fühlt sich aufgehoben in der kleinen Welt von Brekkukot, dem mitten in der Hauptstadt Reykjavík gelegenen Hof aus Halldór Laxness’ 1957 erschienenem Roman „Das Fischkonzert“. Es ist eine eigenartige Versammlung alter und gescheiterter Menschen, die in dem gastfreundlichen Hof Unterschlupf findet. „Eines schönen Tages geschah es, dass eine ältere, in dunkle Umschlagtücher gehüllte Frau schräg gegenüber unserer Haustür saß und nicht den Mut hatte, anzuklopfen. Wie heißt deine Familie, gute Frau und wo kommst du her, sagte mein Großvater. Ich komme von Osten, sagte die Frau. Na, ich muss sagen, da hast du einen weiten Weg hinter dir, sagte mein Großvater. Willst du hier in Reykjavík jemanden besuchen? Oh nein, sagte die Frau und lächelte. Ich bin hierher gekommen, um zu sterben. Na so etwas, sagte mein Großvater. Möchtest du nicht mit hineingehen und eine Tasse Kaffee trinken?“

Im „Fischkonzert“ vergeht die Zeit, ohne dass etwas Besonderes geschieht. Der Ich-Erzähler Alfgrimur schildert das alltägliche Leben in aller Breite. Das ist der fabelhafte Laxness, bei dem das Romanlicht funkelt. Doch das komplizierte Buch erzählt auch die Geschichte von einem Helden, der dann doch keiner ist. Der „weltberühmte“ Sänger Gardar Holm verlässt Island und will in der Welt singen. Am Ende entpuppt er sich als ein vagabundierender Scharlatan, sein Mythos beruht nur auf Täuschung.

Seinen ersten Roman, „Der große Weber von Kaschmir“, schreibt der 23-jährige Halldór Gudjónsson vom Laxness-Hof 1925 auf Sizilien. „Endlich, endlich!“, begrüßt der Kritiker Kristjan Albertsson das Buch. Endlich ist die Moderne auf Island angekommen. Das Buch ist die sehr autobiografische und (reflektiert) egomane Geschichte des jungen isländischen Schriftstellers Ellidi Stein, der nach Europa geht, nach Island zurückkehrt und sich zwischen Liebe, Frömmigkeit und Kunst nicht entscheiden kann. Eine wüste Collage aus so ziemlich allem, was zu dieser Zeit Rang hatte, Surrealismus, Dadaismus und Expressionismus, dann wieder skandinavische Bauernromantik im Stil Bjørnsons, Lagerlöfs oder Hamsuns und schließlich so etwas: „Als mein Mann abends nach Hause kam, hatte er sich kaum zu Tisch gesetzt, als er sein Notizbuch herauszog. Ich betrachtete ihn heimlich und fühlte, dass ich diesen Mann verachtete.“ Die Ehe als Abgrund der modernen Seele im Geiste Ibsens und Strindbergs. Laxness’ Alter Ego, Ellidi Stein, ist „der Sendbote einer neuen Kunst hier im Norden, der isländische Vertreter des neuen Tages, der in der Kultur des jungen Europa anbricht!“

Nach den Stimmen vom Kontinent hört Laxness auf die von seiner Insel. Auf Reisen entdeckt er Island, begleitet die Modernisierung des Landes mit sozialkritischen und auch fortschrittsbegeisterten Reportagen. Vorher haben ihn wohl vor allem seine Erlebnisse in Amerika zum Sozialisten werden lassen. In den Dreißigerjahren schreibt Laxness drei dicke Romane, die eine Rückkehr zum realistischen Erzählen darstellen. „Salka Valka“, 1931 erschienen, ist die Geschichte einer Frau, die es mit Fisch zu etwas Geld bringt und sich nicht zwischen dem Naturburschen Steinthor und dem weltfremden, bis zur völligen Ermüdung monologisierenden Idealisten Arnold entscheiden kann. Vor allem ist Salka Valka die weibliche Heldin einer Art Bildungsroman, eine sagenhafte Revolutionärin, die mit der Revolution eigentlich nichts am Hut hat.

Beim Bauern Bjartur aus „Sein eigener Herr“ (1934/35) geht alles schief, vor allem wegen seiner absurden Sturheit. Sein Traum von einem eigenen Hof scheitert nicht nur, sondern kostet viele Menschen das Leben. „Sein eigener Herr“ ist als tragödienhaftes Gegenstück zu Hamsuns „Segen der Erde“ höchst interessant. Es ist aber auch, gerade nach „Salka Valka“, ein implizites Plädoyer für Kollektivierung – Laxness las Lenin und Stalin völlig naiv. Auch in „Weltlicht“ (1937 bis 1940) prangert Laxness die sozialen Missstände seiner Zeit an. Hauptfigur ist der christusähnliche Dichter Olafur Karason, ein armer Mensch, der immer nur passiv ist, für den Schönheit und Literatur die Sphäre der Hoffnung bedeuten. Ironie und Satire stehen hier immer wieder neben kitschigen Mystifikationen.

Bei aller Stimmenvielfalt und bei den stets zahlreichen Nebenfiguren lassen sich Laxness’ Romane immer wie Opern nacherzählen. Ort: eigentlich immer Island. Zeit: dieses oder jenes isländische Jahrhundert, später vor allem sein eigenes. Laxness dreht und wendet die Gattungen, auch nach intellektuellen Moden: Entwicklungsroman, Erziehungsroman, Künstlerroman, später Essay- oder Reportageromane – „Atomstation“ (1948) etwa oder, wundervoll bizarr, „Am Gletscher“ (1968). Immer aber sind die Bücher wie eine Saga konstruiert und immer gibt es den Sound der Saga.

Natürlich war Laxness ein großartiger PR-Agent seines Landes und natürlich verhalf ihm auch die nordische Exotik zu seinen vielen Lesern. Magisch wird der isländische Realismus für Nichtisländer oft ohne Zutun des Autors, etwa durch das surreale Bestiarium der Kochzutaten aus getrockneten Kabeljauköpfen, Seeskorpion und Hammelhoden. Die Isländer scheinen Allesfresser zu sein, kein Wunder, dass Laxness ein literarischer Allesfresser und -verwerter ist, ein Verschwender. Von Joyce hat er das Stimmengewirr, die Collage, die Lust am Witz, von Kafka die undurchschaubaren Symbole, das Unheimliche – und die Sensibilität für die Schriftlichkeit. Mit Proust teilt Laxness die Weitschweifigkeit, die Zeit im Roman. Im Spätwerk sucht Laxness Kürze und Lakonik vor allem bei amerikanischen Vorbildern wie Sinclair oder Hemingway, den er übersetzt.

Island um 1700, kurz vor der Aufklärung. Die dänische Kolonialmacht herrscht mit grausamen Mitteln. Es wird geköpft und verstümmelt, ertränkt und ausgepeitscht, dass man die „Islandglocke“ (1943/46) so manches Mal lieber nicht weiterlesen möchte. Der Bauer Jon Hreggvidsson ist unschuldig zum Tode verurteilt. Er fährt nach Dänemark, um den König um Gnade zu bitten. Als er nach Deutschland kommt, soll er sofort gehängt werden und kommt in ein Verlies, in dem Leichen zu Massen von der Decke baumeln. Er entkommt. Eine schwärzere Satire auf Nazideutschland lässt sich kaum denken. „Die Islandglocke“ ist ein nordischer Widerstandsroman. Aber auch ein krudes Pamphlet isländischen Patriotismus gegen die Dänen. Ausgerechnet als die Deutschen Dänemark besetzt halten, nutzen die Isländer die Gunst der Stunde und erklären sich im Frühjahr 1944 für unabhängig.

„Ich Island!“ sagt Jon, als er völlig abgebrannt und ohne Schuhe von den feinen Holländern wie ein seltsames Wesen bestaunt wird. Ein gebrochener Nationalheld, der lernt, sich zu fürchten, und der auf andere angewiesen ist. In „Heldengeschichte“ von 1952 wird wieder gemordet und gequält. In einer im Zeitalter der Sagas angesiedelten Familiengeschichte korrigiert Laxness, zum Ärger vieler Isländer, falsche Vorstellungen von germanischem Heldentum. Hier sind es Isländer, die grausam sind.

Als in der „Islandglocke“ ein deutscher Kaufmann Island kaufen will, sagt ihm der Büchermensch Arnas Arnaeus: „Es gibt keinen gewaltigeren Anblick als Island, wie es aus dem Meer steigt. Jetzt könnt ihr verstehen, dass man Island nicht kaufen kann.“ Island als Epiphanie. Als die „Polarstern“ am 4. November 1955 Island erreicht, ist die Küste von tausenden Menschen gesäumt, die den gerade gekürten Nobelpreisträger Laxness begrüßen. Ihren Helden. Als junger Dichter hatte er seine Lehrjahre im Ausland erlebt, war ins Kloster gegangen, hatte in seiner Heimat den Katholizismus verfochten. Er hoffte, in Amerika viel Geld mit Drehbüchern verdienen zu können. In Moskau erlebte er das Urteil gegen Bucharin und hieß es gut. Als sich Island auf die Seite der Amerikaner schlägt, sieht er es verkauft. Später soll er auf Vorschlag der konservativen Partei Präsidentschaftskandidat werden. In seinem Haus in Mosfjelldal wird er alt und spielt Bach auf dem Klavier, wird später dement. „Ich bin ein Isländer, der wahre Isländer“, hat er geschrieben.

Am 9. Februar 1998 stirbt er, 96-jährig. Der letzte Nationaldichter, bildungsbeflissen auch ohne Abitur. Marx hatte er nicht gelesen, Freud anscheinend nicht verstanden, ein mal zweifelnder, mal enthusiastischer Katholik, Sozialist, Taoist, Weltbürger und Patriot, arroganter Dandy und Anwalt der Schwächsten, moderner Traditionalist, fehlbar, aber nicht bestechlich, ein freundlicher Herr.

Im Göttinger Steidl Verlag ist eine elfbändige Laxness-Jubiläumsausgabe (250 Euro) erschienen; Übersetzung: Hubert Seelow und Bruno Kress. Ebenfalls neu: eine Laxness-Biografie von Halldór Gudmundsson (Steidl, 19 Euro). Die Nordischen Botschaften in Berlin, Rauchstraße 1, zeigen parallel zum „Island Hoch“-Festival eine Ausstellung zu Leben und Werk des isländischen SchriftstellersDIRK SCHÜNEMANN, 26, lebt als freier Autor in Berlin. Auf die Frage: Warum Island? sagt er: Wegen Skandinavien und Wolfgang Müller