piwik no script img

Collagen als Kinder

In 100 Jahren von der Juniorchefin zur Künstlerin – unermüdlich klebt Herta Sperling dem Zeitgeschehen eine  ■ Von Gabriele Knoop

Mittlerweile geht zwar alles etwas langsamer, aber Herta Sperling klebt unermüdlich weiter. Die Meldorfer Künstlerin, die im Juni 100 Jahre alt wird, hat eine ganz eigenwillige Technik entwickelt, mit der sie ihre Eindrücke vom Zeitgeschehen wiedergibt. Sie liest ihre Lieblingszeitschrift nicht nur intensiv, sondern nutzt die Fotos für Collagen aus unzähligen kleinen Papierschnipseln.

Das Meldorfer Landwirtschaftsmuseum zeigt jetzt zu Herta Sperlings 100. Geburtstag bis zum 16. Juni einen Querschnitt ihres Schaffens von den frühen Monotypien über Webarbeiten und Plakate bis zu den Collagen. Die Ausstellung erinnert zugleich mit vielen Berichten und Erinnerungsstücken an den Kunstinitiator der Region Dithmarschen, Detlef Boysen (1905-1972). Außerdem beteiligten sich neun befreundete schleswig-holsteinische Künstler mit eigenen Werken an der Schau. (Neue Holländerei am Schleswig-holsteinischen Landwirtschaftsmuseum, Di-Fr 9-17 Uhr, Sa/So 11-17 Uhr).

Für besonders couragiert habe sie sich eigentlich nie gehalten, erzählt die alte Dame – und kann doch auf einen für eine Frau ihrer Generation recht ungewöhnlichen Lebenslauf zurückblicken: Die gebürtige Brombergerin (Westpreußen) studierte an den Berliner und Königsberger Kunstgewerbeschulen, ließ sich zur Weberin ausbilden und avancierte bis zum Börsenkrach 1929 zur Juniorchefin einer Hamburger Innenarchitekturfirma.

1934 machte sie den Führerschein und durchstreifte mit zwei Wochen Fahrpraxis ganz Deutschland, noch mit 91 reiste sie allein durch die Türkei. Doch das zählt schon zu ihrem „zweiten Leben“, das nach einer weiteren Karriere als Textildesignerin 1953 in Meldorf begann. Im Haus, das ihre Eltern nach der Flucht erworben hatten, lebte sie fortan als freischaffende Künstlerin – und erfolgreiche Ausstellungsmacherin.

Gemeinsam mit Detlef Boysen – der sein Brot als Rangierer verdiente, aber kunstbesessen in den 30er Jahren auch mit dem Fahrrad bis nach Paris zu Ausstellungen fuhr – entwickelte sie die Kunstszene an der Westküste. Beide organisierten Gemeinschaftsausstellungen für viele schleswig- holsteinische Künstler in Meldorf, Kampen, Wyk auf Föhr und Brunsbüttel.

Herta Sperlings eigene künstlerische Arbeit begann mit der Grafik, deren schlecht gedruckte Stellen sie irgendwann überklebte. Bald setzte sie das ganze Bild aus kleinen Papierschnipseln so komplex zusammen, dass das Ausgangsmaterial nicht mehr zu identifizieren war. Wie ein orientalischer Geschichtenerzähler klebt sie traumähnliche Gestalten, Landschaften und Gebilde, die ein bisschen an den Jugendstil, an Kurt Schwitters oder Max Ernst erinnern, letztlich aber eine ganz eigene – und als Alterswerk – recht aufmüpfige Kunst darstellen. So bezieht sich eine Trilogie auf den „Herrn der Ringe“, den sie begeistert in den 70er Jahren gelesen hat.

Einsam fühlte sich Herta Sperling nur selten. Bis heute besitzt sie kein Fernsehgerät. Rundfunkprogramme kann sie kaum mehr hören. „Meine Bilder sind meine Kinder“, meint die Hundertjährige, die bedauert, dass die Qualität der Zeitschriftenfotos immer schlechter und ihr so die künstlerische Arbeit erschwert werde.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen