stefan kuzmany über Alltag
: Wie soll man da arbeiten?

Nachdem ich mich gerade von Minesweeper losgesagt hatte, installierte mein kleiner Bruder Frog-Running

Nur noch einen Frosch. Nur noch einen verdammten Frosch, dann habe ich über 63.000 Punkte und kann endlich aufhören und ins Bett gehen. Verdammt, da kommt schon wieder so ein blauer Rennwagen herangerast. Mit dem habe ich nicht gerechnet. Zack, da liegt mein sympathisches grünes Alter Ego in seinem eigenen Blut auf der Straße. Doch für Trauer bleibt keine Zeit. „Drücken Sie die SPACE-Taste, um fortzufahren“, steht auf dem Bildschirm. Ich drücke sie sofort.

Was tue ich hier eigentlich?

Schuld ist natürlich wieder mein Bruder. Tat harmlos bei seinem letzten Besuch: „Ich habe da noch etwas für dich. Macht dir sicher Spaß.“ Mit diesen Worten installierte er ein kleines Programm auf meinem Rechner. Nichts Besonderes, wirklich.

Erinnern Sie sich an Frogger? Eines der klassischen Computerspiele der 80er-Jahre. Es galt, einen kleinen Frosch über eine viel befahrene Straße zu geleiten, dann über gegenläufig in einem reißenden Fluss treibende Baumstämme, um ihn schließlich in seinem Nest am oberen Rand des Bildschirms zu versenken. Dann kam der nächste Frosch. Und der nächste. Und dann der nächste Level, mit ihm schnellere Autos, schnellere Baumstämme, flinke Schlangen und andere Widrigkeiten. Ganz nett. Eine niedere Form der Zeitverschwendung.

Zwanzig Jahre später besucht mich mein Bruder und installiert Frog-Running auf meinem Rechner, eine von jungen Schweizern schnell programmierte Windows-Version von Frogger, nur noch etwas nervtötender. Eigentlich nichts für mich. Dafür bin ich zu alt. Und ein gebranntes Kind dazu.

Viele, viel zu viele Stunden hatte ich mit Minesweeper verplempert. Die Gliederung für die Semesterarbeit? Konnte warten. Aufräumen? Einkaufen? Warum? Es gab Wichtigeres zu tun. Auf meinem Bildschirm wollte ein gefährliches Minenfeld unbedingt geräumt werden. Tausende von Minen habe ich entschärft, wohl hunderttausendmal bin ich dabei explodiert, virtuell, versteht sich. Bis es mir endlich zu dumm wurde.

Minesweeper wird mit jedem Windows-System ausgeliefert, und damit besitzt fast jeder Computerbesitzer weltweit dieses teuflische kleine Spiel. Was für eine globale Verdummung. Das konnte so nicht weitergehen! Erbost griff ich zum Telefon, wählte die Nummer der deutschen Microsoft-Zentrale und landete schließlich in der Presseabteilung.

Die Frau am anderen Ende der Leitung war freundlich, das schon, aber wirklich auskunftsfreudig war sie nicht. Dabei waren meine Fragen keinesfalls abwegig: „Haben Sie Erkenntnisse darüber, wie viele Stunden an Arbeitszeit weltweit täglich verloren gehen, weil die Arbeitnehmer lieber Minesweeper spielen, als zu arbeiten?“ – „Nein.“ – „Haben Sie eine Ahnung, welche Unsummen da täglich den Bach runtergehen?“ – „Nein.“ – „Frau, haben Sie denn überhaupt keine Skrupel?“ Sie zögerte. Und sagte dann: „Na ja, niemand zwingt Sie dazu, Minesweeper zu spielen. Sie können das Programm doch auch einfach löschen.“ Wie Recht sie hatte. Es tat gar nicht weh. Ich war geheilt. Dachte ich.

Bis mein Bruder kam und Frog-Running auf meinem Rechner installierte. Oder, genau genommen, bis er ganz beiläufig erwähnte: „Ich habe übrigens schon über 63.000 Punkte und bin auf Platz 34 der globalen Weltrangliste.“ Was? Ha! Was der kann, kann ich schon lange. In Bhutan soll es ein Gesetz geben, dem zufolge ein jüngerer Bruder erst dann seine Unschuld verlieren darf, wenn sein älterer Bruder sie bereits verloren hat.Vielleicht gilt dieses Gesetz ja analog auch für die Erlangung des Highscores in Frog-Running. Bestimmt. Ich mag Bhutan. Da ist die Welt noch in Ordnung. Zumindest, was kleine Brüder betrifft.

Und bei uns? In der ach so zivilisierten Welt? Da darf mich dieser Sack regelmäßig anrufen und süffisant nachfragen: „Na, wie viele Punkte hast du denn?“ Er weiß genau, dass ich noch nicht besser bin als er. Sonst hätte ich ihn schon angerufen. Auch mitten in der Nacht. Also gibt er mir kluge Ratschläge: „Um ein Weltklasse-Frog-Runner zu werden, muss man schnell sein. Und mutig. Und entspannt. Also ganz anders als du.“ Was für eine Unverschämtheit.

Seither spiele ich Frog-Running – und träume von zermalmten Fröschen. In meiner Not habe ich sogar eine Mail an die Schweizer Programmierer geschickt, einen als Lob getarnten Hilferuf: „Euer Spiel macht wirklich süchtig. Wie soll ich jemals wieder an meinem Computer arbeiten können?“ Sie haben mir noch nicht geantwortet.

Oder vielleicht doch? Kürzlich erschien auf der Frog-Running-Homepage ein Hinweis: „Die neue Version ist online. Wer noch die alte Version hat, sollte die neue herunterladen. Mit dieser kann man mehr Punkte erreichen. Ihr wollt doch sicher mehr Punkte?“

Das ist der Schweizer Zynismus, dem auch Thomas Borer-Fielding und seine Gattin Shawne zum Opfer gefallen sind.

Nur noch einen Frosch. Nur noch einen einzigen verdammten Frosch …

Selbst süchtig werden?www.frog-running.ch.vu